Nach Ansicht von Generalanwalt Rantos im Verfahren vor dem Europäische Gerichtshof zum Aktenzeichen C-14/21 und C-15/21 können private Schiffe, mit denen regelmäßig Such- und Rettungseinsätze auf See durchgeführt werden, vom Hafenstaat einer Kontrolle unterzogen werden, ob sie internationalen Normen entsprechen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 33/22 vom 22.02.2022 ergibt sich:
Nach dem Unionsrecht kann der Hafenstaat Festhaltemaßnahmen treffen, wenn die festgestellten Mängel eindeutig eine Gefahr für die Sicherheit, die Gesundheit oder die Umwelt darstellen.
Sea Watch ist eine humanitäre Organisation ohne Gewinnerzielungsabsicht mit Sitz in Berlin (Deutschland). Sie widmet sich insbesondere der Durchführung von Such-und Rettungseinsätzen auf See (im Folgenden: Seenotrettungseinsätze) und geht dieser Tätigkeit in den internationalen Gewässern des Mittelmeers mit Schiffen nach, die in ihrem Eigentum stehen und auch von ihr betrieben werden. Zu diesen Schiffen gehören die Sea Watch 3 und die Sea Watch 4, die unter deutscher Flagge fahren und als „general cargo/multipurpose“ (im Folgenden: Mehrzweckfrachtschiffe) zertifiziert wurden. Im Sommer 2020 wurden nach der Durchführung von Rettungseinsätzen und nach der Ausschiffung der aus Seenot geretteten Personen in den Häfen von Palermo (Italien) und Porto Empedocle (Italien) an Bord der in Rede stehenden Schiffe gründlichere Überprüfungen durch die Hafenbehörden dieser beiden Städte durchgeführt, und zwar mit der Begründung, dass die Schiffe zur Seenotrettung eingesetzt würden, obwohl sie dafür nicht zertifiziert seien, und eine weit höhere Zahl von Personen als zertifikatsgemäß zulässig an Bord aufgenommen hätten. Die Überprüfungen ergaben eine Reihe technischer und operativer Mängel, von denen einige als eindeutig gefährlich für die Sicherheit, die Gesundheit oder die Umwelt angesehen wurden. Die beiden Hafenbehörden ordneten daher das Festhalten dieser Schiffe an.
Im Nachgang hierzu erhob Sea Watch beim Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia (Regionales Verwaltungsgericht Sizilien, Italien) zwei Klagen, mit denen insbesondere die Nichtigerklärung der Bescheide über die Festhaltemaßnahmen und der diesen Bescheiden vorangegangenen Kontrollberichte begehrt wird. Zur Stützung ihrer Klagen machte Sea Watch im Wesentlichen geltend, dass die Hafenbehörden, von denen diese Maßnahmen getroffen wurden, die dem Hafenstaat eingeräumten Befugnisse überschritten hätten, wie sie sich aus der Richtlinie 2009/161 ergäben, die im Licht des geltenden Völkergewohnheitsrechts und der einschlägigen Übereinkommen ausgelegt werde.
Das Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia hat dem Gerichtshof infolgedessen Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt und möchte wissen, ob die Richtlinie 2009/16 auf die fraglichen Schiffe Anwendung findet. Das vorlegende Gericht ersucht außerdem darum, die den Kontrollbefugnissen des Hafenstaats zugrunde liegenden Bedingungen, die Reichweite dieser Befugnisse und die Voraussetzungen für das Festhalten eines Schiffes klarzustellen.
In seinen heute verlesenen Schlussanträgen vertritt Generalanwalt Athanasios Rantos die Auffassung, dass die Richtlinie 2009/16 auf Schiffe wie die in Rede stehenden anwendbar ist, die zwar als Mehrzweckfrachtschiffe registriert wurden, aber Seenotrettungseinsätze durchführen. Die genannte Richtlinie gelte nämlich für alle Schiffe, die einen Hafen oder Ankerplatz eines Mitgliedstaats anliefen, in dem eine Schnittstelle Schiff/Hafen erfolgen solle, und für ihre Besatzung. Bei Schiffen, die für nichtgewerbliche Zwecke verwendet würden, seien nur sehr spezifische Kategorien von Schiffen vom Geltungsbereich der Richtlinie ausgenommen; auf sie habe der Gesetzgeber die Ausnahme beschränken wollen2.
Der Generalanwalt ist der Ansicht, dieser Befund finde in den mit der Richtlinie 2009/16 verfolgten Zielen seine Bestätigung, die darin bestünden, dazu beizutragen, dass die Anzahl unternormiger Schiffe in den Hoheitsgewässern der Mitgliedstaaten drastisch verringert werde, um insbesondere die Sicherheit, die Verhütung von Verschmutzung sowie die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord zu verbessern.
In Bezug auf die für eine zusätzliche Überprüfung seitens des Hafenstaats geltenden Voraussetzungen sei es offensichtlich, dass ein Schiff, das regelmäßig mehr als die Höchstzahl der Personen befördere, die der ihm erteilten Zeugnisse gemäß befördert werden dürften, unter bestimmten Umständen eine Gefahr für Personen, Sachen oder die Umwelt darstellen könne. Ein solcher Umstand könne grundsätzlich als „unerwarteter Faktor“ eine „zusätzliche Überprüfung“ im Sinne der Richtlinie 2009/16 rechtfertigen3. Indessen sei vom nationalen Gericht eine Sachverhaltsprüfung in jedem Einzelfall anzustellen, die sich nicht auf die formale Feststellung eines Unterschieds zwischen der Zahl der beförderten Personen und der Zahl der Personen, deren Beförderung gestattet sei, beschränken dürfe, sondern konkret die Risiken eines solchen Verhaltens beurteilen müsse, wobei die Verpflichtung zur Seenotrettung nach Völkergewohnheitsrecht zu berücksichtigen sei4.
Zur Reichweite der Kontrolle des Hafenstaats erinnert der Generalanwalt daran, dass eine gründlichere Überprüfung durchgeführt werde, wenn es nach einer Erstüberprüfung „triftige Gründe“ für die Annahme gebe, dass der Zustand eines Schiffes die einschlägigen Vorschriften eines internationalen Übereinkommens nicht erfülle. Dieser „triftige Grund“ bestehe im vorliegenden Fall darin, dass bei der das Schiff betreffenden Zeugnis- und Unterlagenprüfung Unstimmigkeiten festgestellt worden seien. Eine derartige Kontrolle könne sich nicht auf die formalen Anforderungen beschränken, die in den Zeugnissen über die Klassifikation des Schiffes vorgesehen seien, sondern sie betreffe vielmehr die Frage, ob dieses Schiff mit allen einschlägigen Regeln der internationalen Übereinkommen im Bereich der Sicherheit, der Verhütung von Verschmutzung und der Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord in Einklang stehe. Dabei seien der tatsächliche Zustand des Schiffes und seiner Ausrüstung sowie die tatsächlich mit ihm ausgeübten Tätigkeiten ebenso zu berücksichtigen wie diejenigen, für die es klassifiziert worden sei. Zwar stellt der Generalanwalt klar, dass es derzeit weder im Unionsrecht noch im Völkerrecht eine Klassifikation für Schiffe zur Durchführung von Seenotrettungseinsätzen gebe, doch er betont zugleich, dass der Umstand, dass ein Schiff nicht entsprechend seinen Zertifizierungen betrieben werde, einen Verstoß gegen die Vorschriften über die Betriebsabläufe an Bord darstellen und insbesondere eine Gefahr für Personen, Sachen oder die Umwelt mit sich bringen könne.
Demzufolge gelangt der Generalanwalt zu dem Ergebnis, dass der Hafenstaat die Einhaltung der internationalen Übereinkommen und Unionsvorschriften sicherstellen kann, die in den Bereichen der Sicherheit auf See, der Gefahrenabwehr im Seeverkehr, des Schutzes der Meeresumwelt sowie der Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord gelten, wobei er die tatsächlich mit dem Schiff durchgeführten Tätigkeiten zu berücksichtigen hat, sofern eine solche Kontrolle weder in die Zuständigkeit des Flaggenstaats für die Klassifikation des Schiffes eingreift noch die Erfüllung der Verpflichtung zur Seenotrettung beeinträchtigt. Die bloße Tatsache, dass ein Schiff systematisch zur Seenotrettung zum Einsatz kommt, entbindet dieses Schiff nicht von der Beachtung der nach dem Völkerrecht oder dem Unionsrecht für es geltenden Anforderungen und schließt nicht aus, dass es gemäß Art. 19 der Richtlinie festgehalten werden kann, wenn es gegen diese Regeln verstößt.
1 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über die Hafenstaatkontrolle (ABl. 2009, L 131, S. 57, berichtigt in ABl. 2013, L 32, S. 32).
2 Nämlich in Bezug auf für nichtgewerbliche Zwecke verwendete staatliche Schiffe und Vergnügungsjachten, die nicht dem Handelsverkehr dienen (Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2009/16).
3 Nach Anhang I Teil II Abschnitt 2B und Art. 11 der Richtlinie werden Schiffe seitens des Hafenstaates zusätzlichen Überprüfungen nur unterzogen, wenn für sie abschließend aufgeführte „Prioritätsfaktoren“ oder „unerwartete Faktoren“ gelten. Zu den unerwarteten Faktoren gehört derjenige, der sich auf „Schiffe [bezieht], die auf sonstige Weise so betrieben wurden, dass von ihnen Gefahren für Personen, Sachen oder die Umwelt ausgehen“.
4 Die Verpflichtung zur Seenotrettung obliegt dem Schiffskapitän nach Völkergewohnheitsrecht und ist insbesondere in Art. 98 des Seerechtsübereinkommens niedergelegt worden. Unter der Überschrift „Pflicht zur Hilfeleistung“ sieht Art. 98 Abs. 1 vor: „Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, soweit der Kapitän ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste dazu imstande ist, a) jede[r] Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten; b) so schnell wie möglich Personen in Seenot zu Hilfe zu eilen, wenn er von ihrem Hilfsbedürfnis Kenntnis erhält, soweit diese Handlung vernünftigerweise von ihm erwartet werden kann; …“.