Der Europäische Gerichtshof hat am 22.02.2022 zum Aktenzeichen C-430/21 entschieden, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die nationalen Gerichte nicht befugt sind, die Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsvorschriften zu prüfen, die mit einer Entscheidung des Verfassungsgerichts dieses Mitgliedstaats für verfassungsgemäß erklärt wurden.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 31/22 vom 22.02.2022 ergibt sich:
Die Anwendung einer solchen Regelung würde den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und die Wirksamkeit des Vorabentscheidungsverfahrens beeinträchtigen.
Der Gerichtshof hat über den in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verankerten Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit in Verbindung u. a. mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts in einem Kontext zu entscheiden, in dem ein ordentliches Gericht eines Mitgliedstaats nach nationalem Recht nicht befugt ist, die Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsvorschriften zu prüfen, die vom Verfassungsgericht dieses Mitgliedstaats für verfassungsgemäß erklärt wurden, und dem nationalen Richter Disziplinarverfahren und -strafen drohen, wenn er beschließt, eine solche Prüfung vorzunehmen.
Im vorliegenden Fall wurde RS in einem Strafverfahren in Rumänien verurteilt. Seine Ehefrau reichte daraufhin eine Strafanzeige ein, die sich u. a. gegen mehrere Richter wegen Straftaten richtete, die in jenem Strafverfahren begangen worden sein sollen. In der Folge erhob RS bei der Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova, Rumänien) Beschwerde, mit der er die überlange Dauer der auf diese Anzeige hin eingeleiteten Strafverfolgung rügte.
Dieses Gericht hält es, um über diese Beschwerde entscheiden zu können, für erforderlich, zu prüfen, ob die nationalen Rechtsvorschriften zur Errichtung einer spezialisierten Abteilung der Staatsanwaltschaft für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz – eine solche Untersuchung wurde im vorliegenden Verfahren eingeleitet – mit dem Unionsrecht1 vereinbar sind. In Anbetracht des Urteils der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien)2, das nach dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a.3 ergangen ist, wäre das Berufungsgericht Craiova jedoch nach nationalem Recht nicht befugt, eine solche Konformitätsprüfung vorzunehmen. Mit seinem Urteil hat der Verfassungsgerichtshof nämlich die in Bezug auf mehrere Bestimmungen dieser Regelung erhobene Einrede der Verfassungswidrigkeit als unbegründet zurückgewiesen, und zwar unter Hinweis darauf, dass ein ordentliches Gericht, wenn er nationale Rechtsvorschriften für mit der Verfassungsbestimmung, die die Wahrung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts vorschreibe4, vereinbar erklärt habe, nicht befugt sei, die Unionsrechtskonformität dieser nationalen Regelung zu prüfen.
In diesem Zusammenhang hat das Berufungsgericht Craiova beschlossen, den Gerichtshof anzurufen, um zu klären, ob das Unionsrecht dem entgegensteht, dass ein nationaler Richter der ordentlichen Gerichte Rechtsvorschriften unter Umständen wie denen des vorliegenden Falles nicht auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht überprüfen darf, und dass Disziplinarstrafen gegen diesen Richter verhängt werden können, wenn er sich entschließt, eine solche Prüfung vorzunehmen.
Der Gerichtshof (Große Kammer) entscheidet, dass eine solche nationale Regelung oder Praxis gegen das Unionsrecht5 verstößt.
Würdigung durch den Gerichtshof
Zunächst führt der Gerichtshof aus, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einer nationalen Regelung oder Praxis nicht entgegensteht, nach der die ordentlichen Gerichte eines Mitgliedstaats nach nationalem Verfassungsrecht an eine Entscheidung des Verfassungsgerichts dieses Mitgliedstaats gebunden sind, mit der eine nationale Rechtsvorschrift für mit der Verfassung dieses Mitgliedstaats vereinbar erklärt wird, sofern das nationale Recht die Unabhängigkeit dieses Verfassungsgerichts gegenüber insbesondere der Legislative und der Exekutive gewährleistet. Dies gilt jedoch nicht, wenn die Anwendung einer solchen Regelung oder Praxis bedeutet, dass jede Zuständigkeit dieser ordentlichen Gerichte für die Beurteilung der Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsvorschriften, die ein solches Verfassungsgericht für mit einer nationalen Verfassungsvorschrift, die den Vorrang des Unionsrechts vorsieht, vereinbar erklärt hat, ausgeschlossen wird.
Sodann hebt der Gerichtshof hervor, dass die Einhaltung der dem nationalen Gericht obliegenden Verpflichtung, jede unmittelbar wirksame Unionsrechtsvorschrift uneingeschränkt anzuwenden, u. a. deshalb erforderlich ist, um die Achtung der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen sicherzustellen, die die Möglichkeit ausschließt, eine einseitige Maßnahme welcher Art auch immer gegen die Unionsrechtsordnung durchzusetzen, und Ausdruck des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit ist, wonach jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die unmittelbar wirksame Unionsnorm ergangen ist, unangewendet zu lassen ist.
In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof darauf hin, dass er zum einen bereits entschieden hat, dass die fraglichen Rechtsvorschriften in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/9286 fallen und folglich den Anforderungen genügen müssen, die sich aus dem Unionsrecht und insbesondere aus Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV ergeben7. Zum anderen sind sowohl Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV als auch die im Anhang der Entscheidung 2006/928 genannten spezifischen Vorgaben für die Justizreform und die Korruptionsbekämpfung klar und präzise formuliert und an keine Bedingung geknüpft, so dass sie unmittelbare Wirkung haben8. Daraus folgt, dass die rumänischen ordentlichen Gerichte die nationalen Bestimmungen, sofern sie sie nicht im Einklang mit dieser Vorschrift bzw. diesen Vorgaben auslegen können, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen müssen.
In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass die rumänischen ordentlichen Gerichte grundsätzlich dafür zuständig sind, die Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften mit diesen Normen des Unionsrechts zu beurteilen, ohne dass sie ein entsprechendes Ersuchen an den Verfassungsgerichtshof richten müssten. Diese Zuständigkeit wird ihnen jedoch genommen, wenn der Verfassungsgerichtshof entschieden hat, dass diese Rechtsvorschriften mit einer nationalen Verfassungsvorschrift, die den Vorrang des Unionsrechts vorsieht, vereinbar sind, da sie verpflichtet sind, diese Entscheidung zu beachten. Eine solche nationale Regelung oder Praxis würde der vollen Wirksamkeit der fraglichen Normen des Unionsrechts entgegenstehen, da sie das ordentliche Gericht, das die Anwendung des Unionsrechts sicherstellen soll, daran hindern würde, selbst die Unionsrechtskonformität dieser Rechtsvorschriften zu beurteilen.
Die Anwendung einer solchen nationalen Regelung oder Praxis würde zudem die Wirksamkeit der durch das Vorabentscheidungsverfahren geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten beeinträchtigen, indem das ordentliche Gericht, das über den Rechtsstreit zu entscheiden hat, davon abgeschreckt wird, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, und zwar damit es den Entscheidungen des Verfassungsgerichts des betreffenden Mitgliedstaats nachkommt.
Der Gerichtshof betont, dass diese Feststellungen umso mehr in einer Situation geboten sind, in der das Verfassungsgericht des betreffenden Mitgliedstaats es in einem Urteil ablehnt, einem in einem Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil des Gerichtshofs nachzukommen, und sich dabei u. a. auf die Verfassungsidentität dieses Mitgliedstaats und auf die Erwägung stützt, dass der Gerichtshof seine Zuständigkeit überschritten habe. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass er nach Art. 4 Abs. 2 EUV veranlasst sein kann, zu prüfen, ob eine unionsrechtliche Pflicht nicht der nationalen Identität eines Mitgliedstaats widerspricht. Diese Bestimmung hat jedoch weder zum Ziel noch zur Folge, dass ein Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats unter Missachtung der ihm nach dem Unionsrecht auferlegten Verpflichtungen die Anwendung einer Norm des Unionsrechts mit der Begründung ausschließen kann, dass diese Norm die von ihm definierte nationale Identität des betreffenden Mitgliedstaats missachte. Ist ein Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats der Auffassung, dass eine Bestimmung des sekundären Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof gegen die Verpflichtung verstoße, die nationale Identität dieses Mitgliedstaats zu achten, muss es somit dem Gerichtshof ein Ersuchen um Vorabentscheidung über die Gültigkeit dieser Bestimmung im Licht von Art. 4 Abs. 2 EUV vorlegen, da allein der Gerichtshof befugt ist, die Ungültigkeit einer Handlung der Union festzustellen.
Da zudem der Gerichtshof die ausschließliche Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts hat, kann das Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats nicht auf der Grundlage seiner eigenen Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen wirksam entscheiden, dass der Gerichtshof ein Urteil erlassen habe, das über seinen Zuständigkeitsbereich hinausgehe, und es somit ablehnen, einem in einem Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil des Gerichtshofs nachzukommen.
Darüber hinaus stellt der Gerichtshof unter Berufung auf seine frühere Rechtsprechung9 klar, dass Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einer nationalen Regelung oder Praxis entgegenstehen, nach der ein nationaler Richter deshalb disziplinarisch belangt werden kann, weil er eine Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts missachtet hat und insbesondere weil er von einer Entscheidung, mit der dieses es abgelehnt hat, einem Vorabentscheidungsurteil des Gerichtshofs nachzukommen, abgewichen ist.
1 Konkret mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV und dem Anhang der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56).
2 Urteil Nr. 390/2021 vom 8. Juni 2021.
3 Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația „Forumul Judecătorilor din România“ in den verbundenen Rechtssachen C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19 (siehe auch PM Nr. 82/21), in dem der Gerichtshof u. a. entschieden hat, dass die fragliche Regelung gegen das Unionsrecht verstößt, wenn die Errichtung einer solchen spezialisierten Abteilung nicht durch objektive und überprüfbare Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt ist und nicht mit besonderen, vom Gerichtshof vorgegebenen Garantien einhergeht (vgl. Nr. 5 des Urteilstenors).
4 In seinem Urteil Nr. 390/2021 hat der Verfassungsgerichtshof entschieden, dass die fraglichen Rechtsvorschriften mit Art. 148 der Constituția României (rumänische Verfassung) vereinbar seien.
5 Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 und Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV, Art. 267 AEUV und dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts.
6 Vgl. Fn. 1 zum vollständigen Verweis auf die Entscheidung 2006/928.
7 Urteil Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., oben angeführt, Rn. 183 und 184.
8 Urteil Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., oben angeführt, Rn. 249 und 250, und Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19 (siehe auch PM Nr. 230/21), Rn. 253.