Der Europäische Gerichtshof hat am 22.02.2022 zum Aktenzeichen C-562/21 und C-563/21 die Kriterien anhand deren eine vollstreckende Justizbehörde beurteilen kann, ob die Gefahr einer Verletzung des Grundrechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren besteht, für die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls erläutert.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 32/22 vom22.02.2022 ergibt sich:
Im April 2021 wurden von polnischen Gerichten zwei Europäische Haftbefehle1 (im Folgenden: EHB) gegen zwei polnische Staatsangehörige zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bzw. zur Strafverfolgung ausgestellt. Da sich die Betroffenen in den Niederlanden befanden und ihrer Übergabe nicht zustimmten, wurden bei der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) Anträge auf Vollstreckung dieser EHB gestellt.
Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob es verpflichtet ist, diesen Anträgen stattzugeben. Seit 2017 bestünden in Polen systemische oder allgemeine Mängel, die das Grundrecht auf ein faires Verfahren2 beeinträchtigten, insbesondere das Recht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht. Diese Mängel ergäben sich u. a. daraus, dass die polnischen Richter auf Vorschlag der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen, im Folgenden: KRS) ernannt würden. In der Entschließung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) aus dem Jahr 2020 sei jedoch festgestellt worden, dass die KRS seit dem Inkrafttreten eines Justizreformgesetzes vom 8. Dezember 2017 kein unabhängiges Gremium mehr sei3. Da Richter, die auf Vorschlag der KRS ernannt worden seien, an dem Strafverfahren hätten beteiligt sein können, das zur Verurteilung eines der Betroffenen geführt habe, oder mit der Strafsache des anderen Betroffenen befasst werden könnten, bestehe eine echte Gefahr, dass diese Personen im Fall der Übergabe einer Verletzung ihres Grundrechts auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ausgesetzt seien.
Unter diesen Umständen möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob die zweistufige Prüfung4, die der Gerichtshof im Zusammenhang mit Übergaben auf der Grundlage von EHB im Hinblick auf die mit dem Grundrecht auf ein faires Verfahren verbundenen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit entwickelt hat, auch in einem Fall anwendbar ist, in dem es um die ebenfalls mit diesem Grundrecht verbundene Garantie eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts geht.
Der Gerichtshof (Große Kammer), der im Eilvorabentscheidungsverfahren entscheidet, bejaht dies und präzisiert die Modalitäten dieser Prüfung.
Würdigung durch den Gerichtshof
Der Gerichtshof entscheidet, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie über die Übergabe einer Person zu entscheiden hat, gegen die ein EHB ergangen ist, und über Anhaltspunkte für das Bestehen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats verfügt, insbesondere was das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder der Justiz betrifft, die Übergabe dieser Person nur dann auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses 2002/5845 verweigern darf, wenn sie feststellt, dass es unter den besonderen Umständen des Falles ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass das Grundrecht der betroffenen Person auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht verletzt wurde oder im Fall der Übergabe verletzt zu werden droht.
Insoweit stellt der Gerichtshof klar, dass das Recht, von einem „auf Gesetz beruhenden“ Gericht abgeurteilt zu werden, schon seinem Wesen nach das Verfahren zur Ernennung der Richter umfasst. So muss die vollstreckende Justizbehörde im Rahmen des ersten Prüfungsschritts, bei dem es um die Beurteilung der Frage geht, ob eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren, insbesondere im Zusammenhang mit einer Missachtung des Erfordernisses eines durch Gesetz errichteten Gerichts, besteht, eine Gesamtwürdigung auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben über das Funktionieren des Justizsystems im Ausstellungsmitgliedstaat, insbesondere den allgemeinen Rahmen für die Ernennung von Richtern in diesem Mitgliedstaat vornehmen. Die Informationen in einem begründeten Vorschlag, den die Kommission auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 1 EUV an den Rat gerichtet hat, die bereits erwähnte Entschließung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sowie die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs6 und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte7 stellen insoweit relevante Gesichtspunkte dar. Eine Übergabe kann dagegen nicht allein deshalb abgelehnt werden, weil sich ein Gremium wie die KRS, die in das Verfahren zur Ernennung von Richtern eingebunden ist, überwiegend aus Mitgliedern zusammensetzt, die die Legislative oder die Exekutive vertreten oder von diesen ausgewählt werden.
Im Rahmen des zweiten Prüfungsschritts ist es Sache der Person, gegen die ein EHB ergangen ist, konkrete Anhaltspunkte dafür vorzubringen, dass sich die systemischen oder allgemeinen Mängel des Justizsystems konkret auf die Behandlung ihrer Strafsache ausgewirkt haben bzw. dass sie sich im Fall einer Übergabe konkret auswirken können. Diese Angaben können gegebenenfalls durch Informationen der ausstellenden Justizbehörde ergänzt werden.
Insoweit muss die vollstreckende Justizbehörde, wenn es um einen zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten EHB geht, Angaben zur Zusammensetzung des mit der Strafsache befassten Spruchkörpers oder zu jedem anderen für die Beurteilung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses Spruchkörpers relevanten Umstand berücksichtigen. Für die Ablehnung der Übergabe reicht es nicht aus, dass ein oder mehrere Richter, die an dem Strafverfahren beteiligt waren, auf Vorschlag eines Gremiums wie der KRS ernannt wurden. Darüber hinaus muss die betroffene Person Angaben insbesondere zum Verfahren der Ernennung der betreffenden Richter und zu ihrer etwaigen Abordnung machen, die die Feststellung zulassen, dass die Zusammensetzung dieses Spruchkörpers geeignet war, ihr Grundrecht auf ein faires Verfahren zu beeinträchtigen. Außerdem ist zu berücksichtigen, ob die betroffene Person im Ausstellungsmitgliedstaat eines oder mehrere Mitglieder des Spruchkörpers wegen Verletzung ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren ablehnen kann, ob sie gegebenenfalls von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat und wie ihre Ablehnung behandelt worden ist.
Geht es um einen EHB, der zur Strafverfolgung ausgestellt wurde, muss die vollstreckende Justizbehörde Angaben zur persönlichen Situation der betroffenen Person, der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat, dem Sachverhalt, auf dem der EHB beruht, oder jedem anderen Umstand berücksichtigen, der für die Beurteilung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Spruchkörpers, der voraussichtlich mit dem Verfahren gegen diese Person befasst sein wird, relevant ist. Relevant können insoweit auch Erklärungen staatlicher Behörden sein, die sich auf den konkreten Fall auswirken könnten. Dagegen kann die Übergabe nicht allein deshalb abgelehnt werden, weil die Identität der Richter, die möglicherweise mit der Strafsache der betroffenen Person befasst sein werden, zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Übergabe nicht bekannt ist oder weil diese Richter, wenn ihre Identität bekannt ist, auf Vorschlag eines Gremiums wie der KRS ernannt worden sein sollen.
1 Im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung.
2 Garantiert durch Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
3 Das vorlegende Gericht verweist auch auf das Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter), C-791/19, Rn. 108 bis 110 (siehe PM Nr. 130/21).
4 Im ersten Prüfungsschritt hat die vollstreckende Justizbehörde anhand der allgemeinen Lage im Ausstellungsmitgliedstaat zu beurteilen, ob eine echte Gefahr einer Grundrechtsverletzung besteht; im zweiten Schritt muss sie konkret und genau untersuchen, ob unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls eine echte Gefahr der Verletzung eines Grundrechts der gesuchten Person besteht. Vgl. Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems), C-216/18 PPU (siehe auch PM Nr. 113/18), und vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde), C-354/20 PPU und C-412/20 PPU (siehe PM Nr. 164/20).
5 Vgl. in diesem Sinne Art. 1 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584, wonach zum einen die Mitgliedstaaten jeden EHB nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses vollstrecken und zum anderen dieser Rahmenbeschluss nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind, zu achten.
6 Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts), C-585/18, C-624/18 und C-625/18 (siehe PM Nr. 145/19), vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung der Richter am Obersten Gericht – Rechtsbehelf), C-824/18 (siehe PM Nr. 31/21), vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter), C-791/19 (siehe PM Nr. 130/21), und vom 6. Oktober 2021, W.Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung), C-487/19 (siehe PM Nr. 173/21).
7 EGMR, 22. Juli 2021, Reczkowicz/Polen.