Der Europäische Gerichtshof hat am 22.02.2022 zum Aktenzeichen C-300/20 sein Urteil zu der Frage verkündet, ob dem Erlass einer nationalen Maßnahme zum Schutz von Natur und Landschaft wie der Verordnung des Landkreises Rosenheim vom 10. April 2013 über das Landschaftsschutzgebiet „Inntal Süd“ eine Umweltprüfung vorausgehen muss.
Aus der Pressemitteilung des EuGH vom 22.02.2022 ergibt sich:
Im Jahr 2013 erließ der Landkreis Rosenheim (Deutschland) eine Verordnung über ein Landschaftsschutzgebiet (im Folgenden: „Inntal Süd“ Verordnung)[1], ohne zuvor eine Umweltprüfung nach der Richtlinie 2001/42 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme[2] vorgenommen zu haben. Mit der „Inntal Süd“-Verordnung wurde ein etwa 4 021 ha großes Gebiet unter Schutz gestellt, das rund 650 ha kleiner ist als das Gebiet, das während der Geltungsdauer früherer Verordnungen unter Schutz stand.
Der Bund Naturschutz in Bayern e. V., eine Umweltschutzvereinigung, focht diese Verordnung beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Deutschland) an. Nachdem ihr Antrag als unzulässig abgelehnt worden war, legte die Vereinigung gegen diese Entscheidung Revision beim Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) ein.
Nach Auffassung dieses Gerichts handelt es sich bei der „Inntal Süd“-Verordnung um einen Plan oder ein Programm im Sinne der Richtlinie 2001/42. Da das Bundesverwaltungsgericht jedoch Zweifel hat, ob der Landkreis Rosenheim verpflichtet war, vor Erlass der Verordnung eine Umweltprüfung nach dieser Richtlinie vorzunehmen, hat es beschlossen, den Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung mit dieser Frage zu befassen.
In seinem Urteil präzisiert der Gerichtshof (Große Kammer) den Begriff der Pläne und Programme, die einer Umweltprüfung nach der Richtlinie 2001/42 unterzogen werden müssen.
Würdigung durch den Gerichtshof
Zunächst weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Richtlinie 2001/42 Pläne und Programme erfasst, die zum einen von einer Behörde auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene ausgearbeitet oder angenommen werden und zum anderen aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erstellt werden müssen.
Hinsichtlich der zweiten Voraussetzung ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung, dass im Sinne und zur Anwendung der Richtlinie 2001/42 als Pläne und Programme, die „erstellt werden müssen“, jene Pläne und Programme anzusehen sind, deren Erlass in nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften geregelt ist, die die insoweit zuständigen Behörden und das Ausarbeitungsverfahren festlegen. Somit ist eine Maßnahme als eine Maßnahme, die „[erlassen] werden muss“, anzusehen, wenn es im nationalen Recht eine besondere Rechtsgrundlage gibt, die die zuständigen Behörden zu ihrem Erlass ermächtigt, auch wenn dieser nicht verpflichtend ist.
Da die „Inntal Süd“ Verordnung von einer lokalen Behörde auf der Grundlage einer Bestimmung des deutschen Rechts erlassen wurde, stellt sie mithin einen Plan oder ein Programm im Sinne der Richtlinie 2001/42 dar. Insoweit führt der Gerichtshof aus, dass der allgemeine Charakter dieser Verordnung, die abstrakt-generelle Vorschriften mit allgemeinen Vorgaben enthält, dieser Einstufung nicht entgegensteht. Der Umstand, dass ein nationaler Rechtsakt ein gewisses Abstraktionsniveau aufweist und das Ziel einer Umgestaltung eines geografischen Gebiets verfolgt, zeugt nämlich von seiner planerischen bzw. programmatischen Dimension und hindert seine Einbeziehung in den Begriff „Pläne und Programme“ nicht.
Sodann prüft der Gerichtshof, ob eine nationale Maßnahme zum Schutz von Natur und Landschaft wie die „Inntal Süd“ Verordnung, die zu diesem Zweck allgemeine Verbotstatbestände und Erlaubnispflichten aufstellt, in den Geltungsbereich von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 fällt. Nach dieser Bestimmung muss für alle Pläne und Programme, die zwei kumulative Voraussetzungen erfüllen, eine Umweltprüfung durchgeführt werden.
Erstens müssen die Pläne oder Programme einen der in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 genannten Bereiche[3] „betreffen“. Im vorliegenden Fall ist diese erste Voraussetzung wohl erfüllt; es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen.
Insoweit stellt der Gerichtshof klar, dass der Umstand, dass das Hauptziel eines Plans oder Programms der Umweltschutz ist, nicht ausschließt, dass der Plan oder das Programm auch einen der in dieser Bestimmung aufgeführten Bereiche „betreffen“ kann. Das Wesen der zum Schutz der Umwelt ausgearbeiteten Maßnahmen von allgemeiner Geltung besteht nämlich gerade darin, Tätigkeiten des Menschen mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu regeln; hierzu gehören diejenigen, die unter die genannten Bereiche fallen.
Zweitens muss durch die Pläne oder Programme der Rahmen für die künftige Genehmigung der in den Anhängen I und II der Richtlinie 2011/92 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten[4] aufgeführten Projekte gesetzt werden.
Dieses Erfordernis ist erfüllt, wenn ein Plan oder ein Programm eine signifikante Gesamtheit von Kriterien und Modalitäten für die Genehmigung und Durchführung eines oder mehrerer der in den Anhängen I und II der Richtlinie 2011/92 aufgezählten Projekte aufstellt, insbesondere hinsichtlich des Standorts, der Art, der Größe und der Betriebsbedingungen solcher Projekte oder der mit ihnen verbundenen Inanspruchnahme von Ressourcen. Dagegen ist dieses Erfordernis nicht erfüllt, wenn ein Plan oder ein Programm wie die „Inntal Süd“ Verordnung lediglich allgemein formulierte Ziele des Landschaftsschutzes definiert sowie Tätigkeiten und Projekte im Schutzgebiet einer Erlaubnispflicht unterwirft, ohne jedoch Kriterien oder Modalitäten für die Genehmigung und die Durchführung dieser Projekte zu nennen, auch wenn die Verordnung einen gewissen Einfluss auf den Standort der Projekte ausüben kann.
In Anbetracht dieser Erwägungen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die „Inntal Süd“ Verordnung keinen Plan oder kein Programm darstellt, der bzw. das einer Umweltprüfung nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 unterzogen werden muss, da sie keine hinreichend detaillierten Regelungen über den Inhalt, die Ausarbeitung und die Durchführung der in den Anhängen I und II der Richtlinie 2011/92 aufgeführten Projekte enthält; es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen.
Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass eine nationale Maßnahme zum Schutz von Natur und Landschaft, die zu diesem Zweck allgemeine Verbotstatbestände und Erlaubnispflichten aufstellt, ohne hinreichend detaillierte Regelungen über den Inhalt, die Ausarbeitung und die Durchführung von Projekten vorzusehen, auch nicht unter Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2001/42 fällt, wonach es Sache der Mitgliedstaaten ist, darüber zu befinden, ob nicht unter Abs. 2 dieser Bestimmung fallende Pläne und Programme, durch die der Rahmen für die künftige Genehmigung von Projekten gesetzt wird, voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben.