Der Europäische Gerichtshof hat am 10.02.2022 zum Aktenzeichen C-522/20 entschieden, dass die Dauer des Aufenthalts, die erforderlich ist, um die Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats für die Entscheidung über einen Antrag auf Ehescheidung zu begründen, darf sich nach der Staatsangehörigkeit des Antragstellers richten. Da der Besitz der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats dazu beiträgt, dass eine tatsächliche Beziehung zu diesem besteht, ist es nicht offensichtlich unangemessen, in einem solchen Fall nur einen mindestens sechsmonatigen (statt einjährigen) gewöhnlichen Aufenthalt im Inland zu verlangen – so der EuGH.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 27/2022 vom 10.02.2022 ergibt sich:
Ein italienischer Staatsangehöriger, der seit etwas mehr als sechs Monaten in Österreich lebt, hat bei einem österreichischen Gericht einen Antrag auf Auflösung der Ehe mit seiner deutschen Ehegattin gestellt, mit der er in Irland gelebt hatte. In den ersten beiden Instanzen wurde sein Antrag wegen fehlender Zuständigkeit zurückgewiesen. Die sogenannte Brüssel-IIa-Verordnung über die Zuständigkeit in Ehesachen1 verlangt in einem solchen Fall nämlich, dass sich der Antragsteller seit mindestens einem Jahr unmittelbar vor der Antragstellung in dem betreffenden Mitgliedstaat aufgehalten hat. Der Antragsteller ist jedoch der Ansicht, dass die erforderliche Aufenthaltsdauer nur mindestens sechs Monate betragen dürfe, wie dies in der Verordnung für den Fall vorgesehen sei, dass der Betroffene die Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats besitze. Es stelle eine verbotene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dar, wenn von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten ein längerer Mindestaufenthalt verlangt würde.
Der vom Antragsteller angerufene Oberste Gerichtshof (Österreich) teilt diese Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der sich aus der Verordnung ergebenden Ungleichbehandlung mit dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Er hat daher den Gerichtshof hierzu befragt.
Mit seinem Urteil vom 10.02.2022 antwortet der Gerichtshof, dass das in Art. 18 AEUV verankerte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dieser Ungleichbehandlung nicht entgegensteht.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Verordnung sicherstellen soll, dass eine tatsächliche Beziehung zu dem Mitgliedstaat besteht, dessen Gerichte die Zuständigkeit für die Entscheidung über einen Antrag auf Ehescheidung wahrnehmen.
Unter diesem Blickwinkel befindet sich ein Antragsteller, der Angehöriger dieses Mitgliedstaats ist und wegen einer ehelichen Krise den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltsort des Ehepaars verlässt und beschließt, in sein Herkunftsland zurückzukehren, grundsätzlich nicht in einer Situation, die mit der eines Antragstellers vergleichbar wäre, der nicht die Angehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt und infolge einer Ehekrise dorthin umzieht.
Denn ein Angehöriger des betreffenden Mitgliedstaats unterhält zu diesem zwangsläufig institutionelle und rechtliche sowie in der Regel kulturelle, sprachliche, soziale, familiäre oder das Vermögen betreffende Bindungen. Solche Bindungen können folglich bereits zur Feststellung der tatsächlichen Beziehung beitragen, die zu dem Mitgliedstaat bestehen muss. Damit wird außerdem für den anderen Ehegatten eine gewisse Vorhersehbarkeit gewährleistet, da dieser damit rechnen kann, dass möglicherweise bei den Gerichten dieses Mitgliedstaats ein Antrag auf Ehescheidung gestellt wird.
Der Gerichtshof hält es daher nicht für offensichtlich unangemessen, dass diese Bindungen vom Unionsgesetzgeber bei der Bestimmung der erforderlichen Dauer des tatsächlichen Aufenthalts des Antragstellers in dem betreffenden Mitgliedstaat berücksichtigt wurden.
1 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).