Das Bundesverfassungsgericht hat am 12.01.2022 zum Aktenzeichen 2 BvC 17/18 eine Wahlprüfungsbeschwerde zurückgewiesen, mit der sich die Beschwerdeführer gegen das Wahlergebnis im Wahlkreis 232 bei der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag am 24.09.2017 gewandt haben.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 10/2022 vom 09.02.2022 ergibt sich:
Die Beschwerdeführerin zu 1. gab an, sie habe bei der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag mit ihrer Erststimme den Beschwerdeführer zu 2. gewählt. Für diesen wurden in ihrem Stimmbezirk jedoch null Stimmen festgestellt. Den Wahleinspruch der Beschwerdeführer wies der Deutsche Bundestag mit Beschluss vom 5. Juli 2018 und der Begründung zurück, der Wahlprüfungsausschuss habe keine Neuauszählung der Stimmen vornehmen müssen. In Fällen, in denen allein subjektive Rechtsverletzungen im Raum stünden, führe er über die Einholung von Auskünften hinausgehende Ermittlungen nur durch, wenn eine Auswirkung auf die Verteilung der Sitze im Deutschen Bundestag nicht auszuschließen sei (§ 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG).
Der Senat führt zur Begründung seiner Entscheidung aus, dass § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. In Anwendung dieser Norm durfte der Wahlprüfungsausschuss auf eine Nachzählung der Stimmen im betroffenen Stimmbezirk verzichten. Ein Ausnahmefall der Art, dass er weitere Ermittlungen hätte vornehmen müssen, ist nicht gegeben. Auch für die Veranlassung solcher Ermittlungen durch das Bundesverfassungsgericht ist im Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren kein Raum.
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer legten Einspruch gegen das Wahlergebnis im Wahlkreis 232 bei der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag am 24. September 2017 ein.
Zur Begründung trugen sie vor, die Beschwerdeführerin zu 1. habe mit ihrer Erststimme den Beschwerdeführer zu 2. gewählt. Als sie am Abend des Wahltages festgestellt habe, dass für den Beschwerdeführer zu 2. in ihrem Stimmbezirk null Stimmen ausgewiesen gewesen seien, habe sie diesen unverzüglich informiert. Nachdem der Kreiswahlausschuss das Wahlergebnis festgestellt und dieses für den Beschwerdeführer zu 2. im betreffenden Stimmbezirk weiterhin keine Stimme ausgewiesen habe, habe der Beschwerdeführer zu 2. den stellvertretenden Kreiswahlleiter um Überprüfung gebeten. Dabei sei festgestellt worden, dass die Beschwerdeführerin zu 1. wahlberechtigt gewesen sei und an der Wahl teilgenommen habe. Die Bitte des Beschwerdeführers zu 2., die Stimmzettel zu prüfen, habe der stellvertretende Kreiswahlleiter abgelehnt.
Der Deutsche Bundestag wies den Wahleinspruch mit Beschluss vom 5. Juli 2018 zurück. Es sei nicht geklärt, ob die Beschwerdeführerin zu 1. tatsächlich eine Stimme für den Beschwerdeführer zu 2. abgegeben habe und diese fälschlicherweise nicht gezählt worden sei. Die Kreiswahlleitung habe eine Neuauszählung der Stimmen zu Recht abgelehnt. Auch der Wahlprüfungsausschuss habe eine solche nicht vornehmen müssen. In Fällen, in denen allein subjektive Rechtsverletzungen im Raum stünden, führe der Wahlprüfungsausschuss über die Einholung von Auskünften hinausgehende Ermittlungen nur durch, wenn eine Auswirkung auf die Verteilung der Sitze im Deutschen Bundestag nicht auszuschließen sei (§ 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG). Dies sei vorliegend nicht der Fall.
Gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages haben die Beschwerdeführer Wahlprüfungsbeschwerde erhoben. Sie rügen eine Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Die Wahlprüfungsbeschwerde hat keinen Erfolg.
Der Beschluss des Deutschen Bundestages ist formell rechtmäßig. Dem steht nicht entgegen, dass der Wahlprüfungsausschuss auf eine Nachzählung der abgegebenen Stimmen verzichtet hat.
Im Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht zunächst festzustellen, ob der Beschluss des Deutschen Bundestages über den Wahleinspruch unter Beachtung der hierfür geltenden Form- und Verfahrensvorschriften, wie sie insbesondere im Wahlprüfungsgesetz niedergelegt sind, zustande gekommen ist.
Der Umfang der Ermittlungspflicht des Wahlprüfungsausschusses wird durch § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG beschränkt, der mit dem Gesetz zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen vom 12. Juli 2012 eingeführt wurde. Danach führt der Wahlprüfungsausschuss Ermittlungen, die über die Einholung von Auskünften hinausgehen, in der Regel nur durch, wenn eine Auswirkung der Rechtsverletzung auf die Verteilung der Sitze im Bundestag nicht auszuschließen ist. Allerdings verbleibt dem Wahlprüfungsausschuss nach dem Wortlaut der Norm („in der Regel“) ein Spielraum, ausnahmsweise auch in Fällen subjektiver Wahlrechtsverletzungen ohne Mandatsrelevanz weitere Aufklärungsmaßnahmen durchzuführen.
Verfassungsrechtlich ist gegen diese Regelung nichts einzuwenden.
§ 5 Abs. 3 Satz 2 WahlprüfG überschreitet den Spielraum, der dem Gesetzgeber nach Art. 41 Abs. 3 GG zur Ausgestaltung der Wahlprüfung eingeräumt ist, nicht. Der Gesetzgeber war nicht verpflichtet, ein Verfahren einzuführen, das gewährleistet, dass bei der Prüfung einer Verletzung subjektiver Wahlrechte der Sachverhalt stets von Amts wegen in vollem Umfang ermittelt wird. Vielmehr stand es ihm frei, die Ermittlungspflicht des Wahlprüfungsausschusses mit Blick auf subjektive Rechtsverletzungen ohne Mandatsrelevanz im Regelfall einzuschränken, um dadurch dem verfassungsrechtlich legitimen Ziel, über die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Parlaments in angemessener Zeit zu entscheiden, Rechnung zu tragen. Der verfahrensrechtlichen Absicherung des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG trägt dabei insbesondere Rechnung, dass die Begrenzung der Aufklärungspflicht in Fällen ohne Mandatsrelevanz nach dem Wortlaut des § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG zwar in der Regel gilt, weitere Aufklärungsmaßnahmen in Ausnahmefällen aber möglich bleiben.
Bei der Anwendung von § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG ist der Bedeutung des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG Rechnung zu tragen. Entsprechend ist ein Ausnahmefall erweiterter Aufklärungspflichten im Sinne der Norm regelmäßig dann anzunehmen, wenn Umstände hinreichend plausibel vorgetragen sind, deren Vorliegen einen besonders schwerwiegenden Eingriff in das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zur Folge hätte. In diesem Fall kann sich die gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG verbleibende Möglichkeit des Wahlprüfungsausschusses, auch zur Prüfung des Vorliegens allein subjektiver Rechtsverletzungen weitere Ermittlungen anzustellen, von Verfassungs wegen zu einer Pflicht, den Sachverhalt möglichst umfassend aufzuklären, verdichten. Bei der Frage, wann ein solcher Ausnahmefall vorliegt, ist von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles auszugehen.
Grundsätzlich stellt die Nichtberücksichtigung einer Stimme mit Blick auf die überragende Bedeutung des Wahlrechts im demokratischen Staat einen schwerwiegenden Wahlfehler dar. Allerdings ist in Rechnung zu stellen, dass es sich bei der Bundestagswahl um ein Massenverfahren handelt, das zügig durchgeführt werden und zeitnah zur Feststellung des Wahlergebnisses führen muss. Angesichts der Menge an auszuzählenden Stimmen ist trotz der Vorkehrungen, die der Gesetzgeber getroffen hat, das Auftreten von Zählfehlern in Einzelfällen unvermeidbar. Wird das Auftreten derartiger Zählfehler lediglich in einem geringen Umfang behauptet, der zweifelsfrei nicht geeignet ist, Mandatsrelevanz zu entfalten, ist die Legitimationsfunktion der Wahl nicht betroffen. Es ist deshalb verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Behauptung eines einzelnen – zweifelsfrei nicht mandatsrelevanten – Zählfehlers für sich genommen nicht als ausreichend angesehen wird, um einen Ausnahmefall zu begründen, welcher den Wahlprüfungsausschuss zu weiteren Ermittlungen verpflichtet. Etwas Anderes gilt, wenn Umstände substantiiert vorgetragen oder ersichtlich sind, die über einen bloßen Zählfehler hinausweisen. In diesem Fall kann die fundamentale Bedeutung des aktiven und passiven Wahlrechts den Wahlprüfungsausschuss dazu verpflichten, den Sachverhalt so umfassend wie möglich zu ermitteln. Dies gilt jedenfalls bei einer möglichen Wahlfälschung im Sinne von § 107a StGB. Auch bei vergleichbar schwerwiegenden Beeinträchtigungen des subjektiven Wahlrechts kann auch ohne Mandatsrelevanz die Wahrnehmung der dem Wahlprüfungsausschuss zustehenden Ermittlungsmöglichkeiten ausnahmsweise geboten sein.
Danach ist der Verzicht des Wahlprüfungsausschusses auf eine Nachzählung der im betroffenen Stimmbezirk abgegebenen Stimmen nicht zu beanstanden.
Auf der Grundlage des Vortrags der Beschwerdeführer stand von vornherein kein Wahlfehler im Raum, der geeignet gewesen wäre, die ordnungsgemäße Zusammensetzung des 19. Deutschen Bundestages infrage zu stellen. Aufgrund des eindeutigen Stimmenverhältnisses im Wahlkreis 232 durfte der Wahlprüfungsausschuss gemäß §5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG grundsätzlich auf weitergehende Ermittlungen verzichten. Ein Ausnahmefall der Art, dass insbesondere eine Nachzählung der Stimmen zwingend geboten gewesen wäre, ist nicht gegeben. Zwar ergibt sich aus dem Sachvortrag der Beschwerdeführer die plausible Möglichkeit einer Verletzung ihres aktiven beziehungsweise passiven Wahlrechts. Ihre Darlegungen gehen aber über die Behauptung eines bloßen Zählfehlers in einem Einzelfall nicht hinaus.
Auch materiell-rechtlich ist der Beschluss des Deutschen Bundestages nicht zu beanstanden.
Die Tatsache, dass die Kreiswahlleitung eine Nachzählung der im betroffenen Stimmbezirk abgegebenen Stimmen abgelehnt hat, stellt keinen Wahlfehler dar. Die Einwände gegen die Zählung der Erststimme der Beschwerdeführerin zu 1. waren dem Kreiswahlausschuss zum Zeitpunkt der Feststellung des Wahlergebnisses nicht bekannt und für ihn auch nicht erkennbar. Eine diesbezügliche Unterrichtung der Kreiswahlleitung erfolgte erst, nachdem der Kreiswahlausschuss das endgültige Wahlergebnis ermittelt und festgestellt hatte. Für diesen Zeitpunkt ist eine Nachzählung der Stimmen gesetzlich nicht mehr vorgesehen.
Ein Wahlfehler liegt auch nicht deshalb vor, weil der Beschwerdeführer zu 2. auf dem Wahlzettel so aufgeführt war, dass es beim Auszählen der Stimmen leicht dazu kommen konnte, für ihn abgegebene Stimmen zu übersehen. Es ist weder ersichtlich, dass die Platzierung des Beschwerdeführers zu 2. gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen hätte, noch bestehen gegen diese mit Blick auf die Wahlrechtsgleichheit der Bewerber Bedenken.
Aufgrund der unterbliebenen Nachzählung ist ungeklärt geblieben, ob die von der Beschwerdeführerin zu 1. behauptete Abgabe einer Erststimme für den Beschwerdeführer zu 2. erfolgt ist und bei der Feststellung des Wahlergebnisses nicht berücksichtigt wurde. Kann aber nicht aufgeklärt werden, ob ein Wahlfehler vorliegt, bleibt die Wahlprüfungsbeschwerde insoweit ohne Erfolg.
Das Bundesverfassungsgericht war nicht gehalten, eigene Ermittlungen zum Vorliegen eines Wahlfehlers durchzuführen. Hat der Deutsche Bundestag verfahrensfehlerfrei von weiteren Ermittlungen gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG abgesehen, besteht für das Bundesverfassungsgericht weder die Veranlassung noch die Befugnis, weitergehende Ermittlungen anzustellen.