Das Gericht der Europäischen Union hat am 09.02.2022 zum Aktenzeichen T-791/19 den Beschluss der Kommission für nichtig erklärt, mit der eine Beschwerde gegen PKP Cargo, ein vom polnischen Staat kontrolliertes Unternehmen, das seine beherrschende Stellung auf dem Markt für Schienengüterverkehrsdienste in Polen missbraucht haben soll, zurückgewiesen wurde. Das EuG untersucht erstmals die Auswirkungen systemischer oder allgemeiner Mängel der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat, wenn es darum geht, die Wettbewerbsbehörde zu bestimmen, die am besten in der Lage ist, eine Beschwerde zu prüfen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 25/2022 vom 09.02.2022 ergibt sich:
Im Rahmen ihrer Tätigkeit im Speditionsdienstleistungssektor nutzte die Gesellschaft polnischen Rechts Sped-Pro S.A. (im Folgenden: Klägerin) die Schienengüterverkehrsdienste der PKP Cargo S.A., einer vom polnischen Staat kontrollierten Gesellschaft. Am 4. November 2016 reichte die Klägerin bei der Europäischen Kommission eine Beschwerde gegen PKP Cargo ein. Darin machte sie geltend, dass PKP Cargo ihre beherrschende Stellung auf dem Markt für Schienengüterverkehrsdienste in Polen missbraucht habe, indem sie es abgelehnt habe, mit ihr einen mehrjährigen Kooperationsvertrag zu Marktbedingungen zu schließen. Am 12. August 2019 wies die Kommission die Beschwerde mit Beschluss C(2019) 6099 final1 (im Folgenden: angefochtener Beschluss) im Wesentlichen mit der Begründung zurück, dass die polnische Wettbewerbsbehörde besser in der Lage sei, sie zu prüfen.
Die Klägerin hat daraufhin beim Gericht Klage auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses erhoben. Sie macht drei Klagegründe geltend, mit denen sie eine Verletzung ihres Rechts darauf, dass ihre Angelegenheit innerhalb einer angemessenen Frist behandelt wird, und einen Begründungsmangel des angefochtenen Beschlusses sowie einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in Polen und offensichtliche Fehler bei der Beurteilung des Interesses der Union an der weiteren Prüfung der Beschwerde geltend macht.
Das EuG hat der Klage stattgegeben und den angefochtenen Beschluss in vollem Umfang für nichtig erklärt. Dabei untersucht es erstmals die Frage, wie sich systemische oder allgemeine Mängel der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat auswirken, wenn es darum geht, die Wettbewerbsbehörde zu bestimmen, die am besten in der Lage ist, eine Beschwerde zu prüfen. Es erläutert auch, unter welchen Umständen ein Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Frist zur Nichtigerklärung eines Beschlusses führen kann, mit dem eine wettbewerbsrechtliche Beschwerde zurückgewiesen wird.
Würdigung durch das Gericht
Erstens führt das Gericht zum Grundsatz der angemessenen Frist aus, dass die Einhaltung einer angemessenen Frist bei der Durchführung von Verwaltungsverfahren im Bereich der Wettbewerbspolitik einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt. Der Grundsatz der angemessenen Dauer eines Verwaltungsverfahrens wird auch in Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bestätigt. Die Kommission ist daher verpflichtet, über eine wettbewerbsrechtliche Beschwerde innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden. Das Gericht weist aber auch darauf hin, dass die Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Frist die Nichtigerklärung eines Beschlusses, mit dem eine Beschwerde zurückgewiesen wird, nur dann rechtfertigen kann, wenn der Kläger nachweist, dass die Überschreitung der angemessenen Frist sich auf die Möglichkeit ausgewirkt hat, seinen Standpunkt in diesem Verfahren zu verteidigen, was insbesondere dann der Fall wäre, wenn sie ihn daran gehindert hätte, tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte zu den beanstandeten wettbewerbswidrigen Praktiken oder zum Interesse der Union an der Untersuchung des Falles zusammenzutragen oder vor der Kommission geltend zu machen.
In Anbetracht dieser Grundsätze stellt das Gericht fest, dass es im vorliegenden Fall nicht erforderlich ist, zu entscheiden, ob die Kommission den Grundsatz der angemessenen Frist gewahrt hat, weil die Klägerin nichts vorgetragen hat, was belegen könnte, dass sich die behauptete Überschreitung dieser Frist auf die Möglichkeit ausgewirkt hat, ihren Standpunkt in diesem Verfahren zu verteidigen. Das Gericht hält den Klagegrund einer Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Frist daher für unbegründet.
Zweitens führt das Gericht zur Beurteilung des Interesses der Union an der weiteren Prüfung der Beschwerde aus, dass die Kommission im vorliegenden Fall keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, als sie die Auffassung vertrat, dass die beanstandeten Verhaltensweisen hauptsächlich den Markt für Schienengüterverkehrsdienste in Polen beträfen, dass die polnische Wettbewerbsbehörde den Sektor im Detail kenne und dass sie auf der Grundlage dieser Faktoren besser in der Lage sei, die Beschwerde zu prüfen. Das Gericht hat außerdem festgestellt, dass die Klägerin zu Unrecht geltend macht, die Kommission hätte vorliegend bei der Beurteilung des Interesses der Union an der Untersuchung des Falles auch andere Faktoren berücksichtigen müssen. Folglich weist es auch den Klagegrund, mit dem offensichtliche Fehler bei der Beurteilung des Interesses der Union an der weiteren Prüfung der Beschwerde gerügt werden, als unbegründet zurück.
Drittens prüft das Gericht im Zusammenhang mit der Frage, ob der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in Polen gewahrt ist, das Vorbringen der Klägerin, wonach die Kommission besser in der Lage sei, die Beschwerde zu prüfen, weil in Polen systemische oder allgemeine Mängel der Rechtsstaatlichkeit bestünden. Insbesondere seien die polnische Wettbewerbsbehörde und die in diesem Bereich zuständigen nationalen Gerichte nicht unabhängig.
Im angefochtenen Beschluss hat die Kommission geprüft, ob solche Mängel es ihr verwehren, die Beschwerde mit der Begründung zurückzuweisen, dass die polnische Wettbewerbsbehörde besser in der Lage sei, sie zu prüfen. Dabei hat sie die zweistufige Prüfung entsprechend angewandt, die nach dem Urteil Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems)2 bei der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen erforderlich ist, um das Grundrecht auf ein faires Verfahren zu wahren. Danach ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob eine echte Gefahr der Verletzung dieses Grundrechts besteht, die mit einer mangelnden Unabhängigkeit der Gerichte des fraglichen Mitgliedstaats aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in diesem Staat zusammenhängt, und in einem zweiten Schritt, ob der Betroffene in Anbetracht der konkreten Umstände des Einzelfalls tatsächlich einer solchen Gefahr ausgesetzt ist.
Insoweit führt das Gericht erstens aus, dass die Einhaltung der rechtsstaatlichen Anforderungen ein relevanter Faktor ist, den die Kommission bei der Bestimmung der Wettbewerbsbehörde, die am besten in der Lage ist, eine Beschwerde zu prüfen, berücksichtigen muss. Hierfür durfte sie diese zweistufige Prüfung entsprechend anwenden. Zwar gibt es Unterschiede zwischen den Umständen, die dem genannten Urteil zugrunde lagen, und denen, die der vorliegenden Rechtssache zugrunde liegen, doch rechtfertigen es mehrere grundsätzliche Erwägungen, die Erkenntnisse aus diesem Urteil im Wege der Analogie für die Bestimmung der Wettbewerbsbehörde heranzuziehen, die am besten in der Lage ist, eine Beschwerde zu prüfen, mit der eine Zuwiderhandlung gegen die Art. 101 und 102 AEUV gerügt wird. Das Gericht weist zunächst darauf hin, dass – wie beim Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – die Zusammenarbeit zwischen der Kommission, den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten und den nationalen Gerichten bei der Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV auf den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung, des gegenseitigen Vertrauens und der loyalen Zusammenarbeit beruht. Sodann ist die Kommission nach der Rechtsprechung bereits verpflichtet, sich vor der Zurückweisung einer Beschwerde wegen fehlenden Unionsinteresses zu vergewissern, dass die nationalen Stellen in der Lage sind, die Rechte des Beschwerdeführers ausreichend zu schützen. Schließlich kommt dem durch Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte garantierten Grundrecht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen Gericht – wie in dem genannten Urteil – besondere Bedeutung auch für die wirksame Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zu, da die nationalen Gerichte zum einen die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden überprüfen und zum anderen diese Bestimmungen unmittelbar anwenden müssen.
Zweitens stellt das Gericht fest, dass die Kommission den zweiten Schritt der oben genannten Prüfung nicht dem Unionsrecht entsprechend durchgeführt hat. Vorliegend hatte die Klägerin im Verwaltungsverfahren ein Bündel von konkreten Anhaltspunkten vorgebracht, mit denen sich ihrer Ansicht nach insgesamt belegen lässt, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass sie der echten Gefahr ausgesetzt wäre, dass ihre Rechte verletzt würden, wenn ihre Angelegenheit von den nationalen Stellen geprüft werden müsste. Sie machte insbesondere geltend, dass PKP Cargo vom Staat kontrolliert werde, dass der Präsident der polnischen Wettbewerbsbehörde von der Exekutive abhängig sei, dass die Muttergesellschaft von PKP Cargo Mitglied einer Vereinigung sei, deren Ziel es sei, die Reform des Justizsystems in Polen zu verteidigen und zu fördern, dass die polnische Wettbewerbsbehörde gegenüber PKP Cargo eine Politik der Nachsichtigkeit verfolge, dass der Generalstaatsanwalt Widerspruch gegen Entscheidungen eingelegt habe, die diese Behörde gegenüber PKP Cargo erlassen habe, und dass die im Bereich des Wettbewerbsrechts zuständigen nationalen Gerichte nicht in der Lage seien, die Unzulänglichkeiten der polnischen Wettbewerbsbehörde auszugleichen, weil sie selbst nicht unabhängig seien. Im angefochtenen Beschluss hat die Kommission diese Anhaltspunkte jedoch nicht geprüft, sondern sich im Wesentlichen darauf beschränkt, sie als unsubstantiiert zu bezeichnen. Das Gericht stellt daher fest, dass die Kommission die von der Klägerin im Verwaltungsverfahren vorgebrachten Anhaltspunkte nicht konkret und genau geprüft und damit ihre sich aus dem genannten Urteil ergebenden Pflichten sowie die ihr obliegende Begründungspflicht verletzt hat.
1 Beschluss C(2019) 6099 final vom 12. August 2019 (Sache AT.40459 – Eisenbahnspedition in Polen – PKP Cargo).
2 Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems), (C-216/18 PPU, vgl. auch Pressemitteilung Nr. 113/18).