Das Verfassungsgericht Hamburg hat am 04.02.2022 zum Aktenzeichen HVerfG 6/20 entschieden, dass das Volksbegehren „Bürgerbegehren und Bürgerentscheide jetzt verbindlich machen – Mehr Demokratie vor Ort“ nicht durchgeführt werden darf.
Aus der Pressemitteilung des VerfG Hamburg Nr. 3/2022 vom 04.02.2022 ergibt sich:
Die angestrebten Ziele würden grundlegende Änderungen der Hamburgischen Verfassung und der Verwaltungsorganisation bedeuten, die in ihrer Komplexität und Tragweite in der Begründung der Vorlage nicht offengelegt würden. Der Abstimmungstext sei zudem irreführend, was das angestrebte Gesetzgebungsverfahren und seinen Ausgang angehe. Die Vorlage versetze die Abstimmenden damit nicht in die Lage, sich ein vollständiges Bild von den eintretenden Folgen ihrer Entscheidung zu machen. Sie verletze den aus dem Demokratieprinzip folgenden Grundsatz der Abstimmungsfreiheit und erfülle damit nicht die Anforderungen an ein zulässiges Volksbegehren. Die Entscheidung des Gerichts ist einstimmig ergangen.
Auf Antrag des Senats hatte das Verfassungsgericht über die Durchführung des Volksbegehrens zu entscheiden. Im August 2019 hatten die Initiatoren eine Vorlage mit dem Ziel eingereicht, eine umfassende Bindungswirkung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden auf Bezirks- und Senatsebene zu erreichen. Nachdem die Hamburgische Bürgerschaft die Vorlage der Volksinitiative nach Einreichung der erforderlichen Unterschriften nicht verabschiedet hatte, beantragten die Initiatoren im Juni 2020 die Durchführung eines Volksbegehrens nach dem Hamburgischen Volksabstimmungsgesetz. Daraufhin hat der Senat im Juli 2020 das Hamburgische Verfassungsgericht angerufen und die Feststellung beantragt, dass das Volksbegehren nicht durchzuführen sei.
Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts ermöglicht die Vorlage keine sachgerechte Abstimmungsentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, denn diese könnten anhand ihrer Begründung weder die Auswirkungen der Änderungen überblicken noch die wesentlichen Vor- und Nachteile abschätzen. Die Ziele der Initiative, nämlich
– eine Bindungswirkung für Bürgerbegehren in Bezirksangelegenheiten,
– ein Verbot für den Senat, in Angelegenheiten von Bürgerbegehren nach deren Anmeldung Entscheidungen zu treffen, sowie
– ein Verbot, Bürgerentscheide durch Handlungen des Senats abzuändern,
ließen sich nur durch Beseitigung der sog. Einheitsgemeinde in Hamburg herstellen. Nach der geltenden Hamburgischen Verfassung haben die Bezirke keine den Gemeinden in Flächenländern vergleichbare Rechtsstellung. Als Teilgebiete des Landes übernehmen sie die ihnen übertragenen Verwaltungsaufgaben zur selbständigen Erledigung, eine originäre Zuständigkeit der Bezirke in eigenen Angelegenheiten, etwa in Form einer Organisations-, Personal-, Finanz-, Abgaben-, Planungs- und Satzungshoheit, sieht die Verfassung gerade nicht vor. Bezirksangelegenheiten im Sinne der Initiative, in denen die Bezirke frei von Einflussnahmen des Senats der Freien und Hansestadt wären, müssten deshalb – anders als es der Abstimmungstext suggeriere – durch Änderungen der Verfassung erst geschaffen werden. Das käme der Einführung gemeindlicher Strukturen auf Bezirksebene und damit einer Abschaffung der Einheitsgemeinde gleich.
Neben diesen weitreichenden staatsorganisationrechtlichen Änderungen der Landesverfassung wären umfangreiche Änderungen auch auf einfachgesetzlicher Ebene erforderlich. Die Komplexität der Änderungen und die grundlegenden Folgen für die Verfasstheit der Freien und Hansestadt Hamburg erschlössen sich jedoch ohne besondere Vorkenntnisse des Hamburgischen Verfassungs- und Verwaltungsorganisationsrechts nicht; vielmehr erwecke die Begründung der Vorlage den Eindruck, es gehe nur um die Regelungen zu Bürgerbegehren und -entscheiden, was bei weitem zu kurz greife.
Auch was die Folgen der Vorlage im Gesetzgebungsverfahren angehe, sei die Vorlage irreführend, denn ihr Wortlaut – „Senat und Bürgerschaft unternehmen unverzüglich alle notwendigen Schritte, damit … Bürgerentscheide bindend sind“ könne bei den Abstimmenden den Eindruck erwecken, dass damit nicht nur der Senat zur Einbringung eines Gesetzesentwurfs, sondern auch die Bürgerschaftsabgeordneten dazu verpflichtet werden sollen, den angestrebten Änderungen am Ende zuzustimmen. Letzteres sei jedoch wegen der Mandatsfreiheit der Abgeordneten, die nur ihrem Gewissen unterworfen seien, rechtlich ausgeschlossen. Folglich verunklare die Vorlage für den Abstimmenden, ob ein Inkrafttreten der begehrten Änderungen gewiss sei oder – wie es auch die Initiatoren selbst verstanden wissen wollen – lediglich ein parlamentarisches Verfahren mit offenem Ergebnis in Gang gesetzt werden solle.
In seiner Entscheidung weist das Gericht darauf hin, dass der Anwendungsbereich von sogenannten anderen Vorlagen, d.h Volksinitiativen, die keinen Gesetzesentwurf zum Gegenstand haben, sondern auf eine Befassung mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung gerichtet sind eingeschränkt sein könnte. Die Bindungswirkung solcher Vorlagen sei problematisch, wenn sie wie hier eine Aufforderung an den Senat beinhalte, eine Gesetzesvorlage mit einem vorgeschrieben Ziel zu erstellen und diese in die Bürgerschaft einzubringen. Dies könne einen unzulässigen Eingriff in den Kernbereich der Exekutive darstellen. Zwar seien Gesetzgebungsaufträge des Parlaments an die Regierung grundsätzlich zulässig und politisch wichtig, sie seien aber rechtlich stets unverbindlich. Solle der Senat einen Gesetzentwurf in eigener Verantwortlichkeit erarbeiten und in die Bürgerschaft einbringen, müsse ihm die Möglichkeit bleiben zu prüfen, ob das Vorhaben aus übergeordneten politischen, rechtspraktischen oder sachlichen Gründen zweckdienlich oder rechtlich zulässig sei. Diese Entscheidungszuständigkeit des Senats würde mit der von der Vorlage intendierten Verpflichtung des Senats zur Einbringung eines Gesetzesvorhabens mit einem vorgeschriebenen Ziel übergangen. Es bestünden daher starke Bedenken, ob sog. andere Vorlagen solchen Inhalts noch zulässig seien.
Zum Hintergrund:
Nach der Landesverfassung und dem Volksabstimmungsgesetz gilt ein dreistufiges Verfahren für Gesetzesentwürfe und andere Vorlagen, die von Bürgern in der vorgesehenen Form eingereicht werden. Für das Zustandekommen einer Volksinitiative ist die Unterstützung von 10.000 Wahlberechtigten erforderlich. Auf der nächsten Stufe eines Volksbegehrens sind Unterschriften von 1/20 der Wahlberechtigten erforderlich. Das Hamburgische Verfassungsgericht hat auf Antrag über die Durchführung eines Volksbegehrens zu entscheiden und zu prüfen, ob es einen zulässigen Gegenstand hat und auch im Übrigen mit höherrangigem Recht vereinbar ist. Beschließt die Bürgerschaft auch nach einem zustande gekommenen Volksbegehren kein entsprechendes Gesetz, kann es auf der dritten Stufe zu einem Volksentscheid kommen, bei dem alle Wahlberechtigen aufgerufen sind, gemeinsam über das Zustandekommen des Gesetzes zu entscheiden. Für eine Verfassungsänderung ist beim Volksentscheid eine qualifizierte Zweidrittelmehrheit erforderlich. Bei Erfolg tritt das vom Volk beschlossene Gesetz in Kraft. Durch Verfassungsänderung wurde im Jahr 2008 als Reaktion auf die Volksinitiative „Gesundheit ist keine Ware“ eine Bindungswirkung auch von sog. anderen Vorlagen eingeführt, das heißt von solchen Volksentscheiden, die keinen Gesetzesentwurf zum Gegenstand haben, sondern auf eine Befassung mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung gerichtet sind .
Bürgerbegehren sind nach aktueller Rechtslage in allen Angelegenheiten möglich, in denen die Bezirksversammlung Beschlüsse fassen darf, mit Ausnahme von Personalentscheidungen und Beschlüssen über den Haushalt. Nach Vorliegen von einem Drittel der geforderten Unterschriften mindestens bis zur Feststellung des Zustandekommens darf eine dem Bürgerbegehren entgegenstehende Entscheidung durch die Bezirksorgane nicht mehr getroffen und mit dem Vollzug einer solchen Entscheidung nicht begonnen werden, wenn das Bürgerbegehren zulässig ist (Sperrwirkung). Der Bürgerentscheid hat die Wirkung eines Beschlusses der Bezirksversammlung, und eine durch Bürgerentscheid zustande gekommene Entscheidung darf innerhalb von zwei Jahren nach dem Tag des Bürgerentscheids nicht im Wege von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid geändert werden darf. Dem Senat steht nach der Verfassung ein umfassendes Weisungs- und Evokationsrecht zu, d.h. er führt und beaufsichtigt die gesamte Verwaltung – auch die der Bezirke.