Der Europäische Gerichtshof hat am 20.01.2022 zum Aktenzeichen C-432/20 entschieden, dass ein Drittstaatsangehöriger seine Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten auch dann nicht verliert, wenn er während eines Zeitraums von zwölf aufeinander folgenden Monaten nur wenige Tage im Unionsgebiet anwesend ist.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 10/22 vom 20.01.2022 ergibt sich:
Ist diese Rechtsstellung einmal erlangt, ist es nicht erforderlich, den gewöhnlichen Aufenthalt oder den Mittelpunkt der Lebensinteressen im Unionsgebiet zu haben.
Der Landeshauptmann von Wien (Österreich) wies den Antrag eines kasachischen Staatsangehörigen auf Verlängerung seiner langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU mit der Begründung ab, dass dieser in den fünf Jahren vor der Stellung dieses Antrags nur wenige Tage pro Jahr im Unionsgebiet anwesend gewesen sei, so dass davon auszugehen sei, dass er sich während dieses Zeitraums nicht in diesem Gebiet aufgehalten habe, was zum Verlust dieser Rechtsstellung führe.
Das Verwaltungsgericht Wien, bei dem der Betroffene diese Entscheidung angefochten hat, hat den Gerichtshof um Auslegung der Richtlinie betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen1 ersucht. Diese sieht vor, dass ein langfristig Aufenthaltsberechtigter diese Rechtsstellung verliert, wenn er sich während eines Zeitraums von zwölf aufeinander folgenden Monaten im Unionsgebiet „nicht aufgehalten“ hat.
Konkret möchte das Verwaltungsgericht Wien wissen, ob jede physische Anwesenheit des Betroffenen im Unionsgebiet während eines Zeitraums von zwölf aufeinander folgenden Monaten ausreicht, um zu verhindern, dass er die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten verliert, auch wenn eine solche Anwesenheit während dieses Zeitraums eine Gesamtdauer von nur wenigen Tagen nicht überschreitet, oder ob die Mitgliedstaaten zusätzliche Voraussetzungen festlegen können, wie etwa die, dass er zumindest während eines Teils des betreffenden Zeitraums von zwölf aufeinander folgenden Monaten seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in diesem Gebiet hatte.
In seinem heutigen Urteil geht der Gerichtshof von der ersten Auslegungsvariante aus: Außer im Fall von Missbrauch reicht es für die Verhinderung des Verlusts der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten aus, dass der Betroffene während des Zeitraums von zwölf aufeinander folgenden Monaten ab Beginn seiner Abwesenheit im Unionsgebiet anwesend ist, auch wenn eine solche Anwesenheit wenige Tage nicht überschreitet.
Nach Ansicht des Gerichtshofs sprechen sowohl der Wortlaut und der Zusammenhang der fraglichen Bestimmung als auch das mit der Richtlinie verfolgte Ziel für eine solche Auslegung.
Was insbesondere das Ziel der Richtlinie betrifft, weist der Gerichtshof darauf hin, dass diese darauf abzielt, die Integration von Drittstaatsangehörigen sicherzustellen, die in den Mitgliedstaaten langfristig und rechtmäßig ansässig sind. Nach Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach mindestens fünf Jahren2 genießen diese Drittstaatsangehörigen u. a. in Bezug auf allgemeine und berufliche Bildung, soziale Sicherheit, steuerliche Vergünstigungen und den Zugang zu Verfahren für den Erhalt von Wohnraum über die gleichen Rechte wie die Unionsbürger.
Dieses Ziel spricht für eine Auslegung, nach der die Drittstaatsangehörigen, die bereits durch die Dauer ihres Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ihre Verwurzelung in diesem Mitgliedstaat belegt haben, grundsätzlich wie die Unionsbürger berechtigt sind, sich auch während längerer Zeiträume außerhalb des Unionsgebiets zu bewegen und aufzuhalten, ohne dass dies an sich schon zum Verlust ihrer Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten führt, sofern sie nicht während eines gesamten Zeitraums von zwölf aufeinander folgenden Monaten von diesem Gebiet abwesend sind.
Im Übrigen ist die herangezogene Auslegung am ehesten geeignet, den Betroffenen angemessene Rechtssicherheit zu garantieren.
Nach Ansicht des Gerichtshofs betrifft die in Rede stehende Bestimmung letztlich den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in Situationen, in denen die Verbindung, die der Inhaber dieses Rechts zuvor zum Unionsgebiet unterhielt, gelockert ist. Dies ist gemäß dieser Bestimmung allerdings erst nach einer Abwesenheit von diesem Gebiet während eines Zeitraums von zwölf aufeinander folgenden Monaten der Fall.
1 Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44).
2 Nach der Richtlinie erteilen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen, die sich fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, auf Antrag die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten. Hierzu hat der Antragsteller insbesondere nachzuweisen, dass er über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen.