Entgeltfortzahlung für Arbeitsunfähigkeit infolge freundschaftlichem Gerangel?

17. Januar 2022 -

Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 30.01.2020 zum Aktenzeichen 6 Sa 647/19 entschieden, dass ein Arbeitnehmer nach § 3 Abs. 1 EFZG Anspruch auf Entgeltfortzahlung ha, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft.

Bei diesem Verschulden geht es um ein Verschulden gegen sich selbst und damit um Fälle eines unverständigen, ungewöhnlich leichtfertigen oder mutwilligen oder gegen die guten Sitten verstoßenden Verhalten.

Von einem solchen Verschulden ist nicht auszugehen, wenn ein junger männlicher Arbeitnehmer ein freundschaftliches Gerangel beginnt und sich selbst im Rahmen dieses Gerangels verletzt.

Diese Voraussetzungen des Entgeltfortzahlungsanspruches sind erfüllt, denn der Kläger war in der hier fraglichen Woche unstreitig in diesem Sinne arbeitsunfähig. Angesichts des unstreitigen Sachverhaltes und des Ergebnisses der Beweisaufnahme traf den Kläger auch kein Verschulden im Sinne des § 3 Abs. 1 EFZG.

Das Verschulden, von dem in § 3 EFZG die Rede ist, unterscheidet sich von der Verantwortlichkeit des Schuldners nach § 276 BGB und der des Straftäters nach § 15 StGB. Bei den beiden letztgenannten Vorschriften geht es um die Verletzung von Sorgfaltspflichten, die der Schuldner oder der Täter gegenüber Dritten hat. Demgegenüber geht es bei dem Verschulden nach § 3 EFZG nicht um eine Sorgfaltspflicht, die den Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber, gegenüber Kollegen oder gar gegenüber der Solidargemeinschaft der Krankenversicherten trifft, sondern vielmehr um ein Verschulden gegen sich selbst. Wenn in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes davon die Rede ist, dass § 3 EFZG „ganz wesentlich der Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen und damit mittelbar aller Beitragszahler“ diene (BAG v. 18.03.2015 – 10 AZR 99/14 -; BAG v. 12.12.2001 – 5 AZR 255/00 -), so ist damit die Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber gemeint und damit die Entlastung der Krankenkasse von ihrer Pflicht zur Zahlung von Krankengeld (soweit nicht vorsätzliches Verhalten vorliegt, § 52 SGB V); gerade nicht gemeint ist damit der Anspruchsausschluss bei einem Verschulden des Arbeitnehmers gegen sich selbst. Im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG ist unter „Verschulden“ also ein dem § 254 BGB ähnliches anspruchsbeseitigendes Verschulden gegen sich selbst zu verstehen. Zur Annahme eines solchen „Verschuldens gegen sich selbst“ genügt nicht jede die Arbeitsunfähigkeit herbeiführende Fahrlässigkeit. Voraussetzung ist vielmehr, dass ein grober Verstoß gegen das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse billigerweise zu erwartende Verhalten vorliegt. Die Arbeitsunfähigkeit darf demnach nicht auf ein unverständiges, ungewöhnlich leichtfertiges oder mutwilliges oder gegen die guten Sitten verstoßendes Verhalten des Arbeitnehmers zurückzuführen sein (Feichtinger/Malkmus, Entgeltfortzahlungsrecht, EFZG § 3 Rn. 105 – 107). Auf die ausführlichen Hinweise in der Entscheidung des Arbeitsgerichts auf die zu diesem Thema veröffentlichte Rechtsprechung und Literatur wird im Übrigen Bezug genommen.

Ein Ausschluss der Entgeltfortzahlung kommt nach alldem nur bei vorsätzlichem oder besonders leichtfertigen Verhalten in Betracht (Reinhard in: ErfK § 3 EFZG Rn. 23), wenn also der Arbeitnehmer entweder die Herbeiführung der Arbeitsunfähigkeit bewusst anstrebt, wie zum Beispiel in Fällen der Selbstverstümmelung (regelmäßig nicht bei Suizidversuch: BAG v. 28.02. 1979 – 5 AZR 611/77), oder er zumindest sein eigenes Integritätsinteresse in einem Grad von Gleichgültigkeit (nicht nur Sorglosigkeit) missachtet, der in ganz besonderem Maße von der üblichen Risikofreude eines verobjektivierten gesunden Arbeitnehmers abweicht.

Ob das fragliche Verhalten im betrieblichen Kontext oder in der Freizeit geschieht, ist unerheblich. Denn für die Beurteilung des Sorgfaltsmaßstabes macht es keinen Unterschied, ob eine körperliche Übergriffigkeit in der Werkstatt des Arbeitgebers oder im Freibad stattfindet, auf dem Weg zur Arbeit oder in der Warteschlange vor dem Club, bei einem Kampfsportereignis oder im familiären Umfeld. Nur die Rechtsfolge, nämlich der Ausschluss der Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitsgebers, ist eine arbeitsrechtliche, also eine auf das Arbeitsverhältnis bezogene; die Voraussetzung des Anspruchsausschlusses ist dem gegenüber allein personenbezogen.

Gleichfalls unerheblich ist, ob ein Körperkontakt im Rahmen von normierten Spielregeln geschieht, oder im nicht geregelten sozialen Raum. Denn auch die in hohem Grade (vorsätzlich) selbstschädigende Vollkontaktsportart MMA (Mixed Martial Arts) kennt Regeln: kein Töten, kein Angreifen der Augen und/oder der Genitalien, kein Beißen, kein Reißen an den Ohren oder der Nase; demgegenüber gibt es für den üblicherweise harmlosen und klassisch-pubertären „Reiterkampf im Nichtschwimmerbecken“ keine geschriebenen Regeln.

Der hier zur Entscheidung vorliegenden Sachverhalt, wie er nach der Beweisaufnahme zu Tage getreten ist, betraf ein Verhalten, das sich der erkennenden Berufungskammer als eine unvernünftige postadoleszente Übergriffigkeit darstellt. Der Gesamteindruck, der sich aus unstreitigem Sachverhalt, der Beweisaufnahme und dem persönlichen Auftreten des Klägers im Kammertermin ergab und den die beweisbelastete Beklagte nicht zu erschüttern vermocht hat, lässt eine Sorglosigkeit vermuten, die dem verobjektivierten (männlichen) jungen Körper innezuwohnen scheint. Der Kläger hat mit seinem albernen Körpereinsatz sein eigenes Integritätsinteresse missachtet. Dies geschah aber bei weitem nicht in einem Maß, das man im oben genannten Sinne – bezogen auf seine eigene Verletzung – als vorsätzlich oder besonders leichtfertig bezeichnen könnte. Keinesfalls vergleichbar ist der Fall mit einer durch den klagenden Arbeitnehmer provozierten Schlägerei (vgl. z.B. LAG Hamm v. 24.09.2003 – 18 Sa 785/03 -). Die Zielrichtung des Klägers war hier kumpelhaftes Kräftemessen und nicht die gewalttätige Austragung eines persönlichen Konflikts. Es ging somit nicht um einen Verstoß gegen die zivilisatorische Errungenschaft der gewaltfreien Streitbeilegung. Der Zeuge A , also das „Opfer“, äußerte im Rahmen der Beweisaufnahme auf Nachfrage selbst: „… das war nur Spaß. Auf keinen Fall ein Angriff. Es war nur Spaß … das war auf alle Fälle nicht böswillig oder mit Absicht. Ich denke, dass er nur zeigen wollte, wie kräftig er ist …“.  Dass der Kläger dabei versucht hat, dem Zeugen „ein Bein zu stellen“ kann zu Gunsten der Beklagten als richtig unterstellt werden. Das Beinstellen mag gegenüber dem Umklammern eine weitere Intensitätsstufe der Körperlichkeit darstellen, markiert aber keinen Übergang von der kumpelhaften Rauferei zum gewalttätigen Konflikt einer Schlägerei. Das freundschaftliche Rangeln oder „Kebbeln“ zweier Männer in jungem/mittleren Alter, mag am Arbeitsplatz deplatziert sein und die Annahme einer möglicherweise abmahnungswürdigen Nebenpflichtverletzung aus dem Arbeitsvertrag begründen; es rechtfertigt jedenfalls angesichts der oben genannten Zielrichtung des Gesetzes nicht, das Entgeltfortzahlungsrisiko des Arbeitgebers auf die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten zu verlagern, denn es geht hier mehr um Unglück als um Verschulden.