Tatsächliches Vorliegen einer Schwangerschaft bei Kündigungsausspruch als Voraussetzung für Sonderkündigungsschutz schwangerer Arbeitnehmerinnen

14. Januar 2022 -

Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 01.12.2021 zum Aktenzeichen 4 Sa 32/21 entschieden, dass maßgeblich für den Sonderkündigungsschutz schwangerer Arbeitnehmerinnen gem. § 17 Abs. 1 Nr. 1 MuSchG das tatsächliche Vorliegen einer Schwangerschaft zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs ist.

Das Herleiten des Bestehens einer Schwangerschaft über eine statistische Wahrscheinlichkeit ist über einen Anscheinsbeweis möglich, der aber lediglich bei typischen Geschehensabläufen greifen kann. Ausgehend von einem typischen Geschehensablauf können zur Ermittlung des Zeitpunkts der Konzeption vom ärztlich festgestellten voraussichtlichen Entbindungstermin nur 266 Tage zurückgerechnet werden.

Die vom BAG in ständiger Rechtsprechung angewandte Rückrechnung um 280 Tage führt hingegen zu Ergebnissen, die mit typischen Schwangerschaftsverläufen nicht im Einklang stehen.

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.

Die Klägerin war seit 15.10.2020 bei der Beklagten beschäftigt. Es war eine sechsmonatige Probezeit vereinbart.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit Schreiben vom 06.11.2020 zum 23.11.2020.

Mit Schriftsatz des Klägervertreters vom 02.12.2020, teilte die Klägerin unter Beifügung einer „Schwangerschaftsbestätigung“ ihrer Frauenärztin vom 26.11.2020 mit, schwanger zu sein
und sich in der sechsten Schwangerschaftswoche zu befinden.

Im Laufe des Verfahrens legte die Klägerin eine weitere Schwangerschaftsbescheinigung der Frauenärztin vom 27.01.2021 vor, in welcher der voraussichtliche Geburtstermin mit
05.08.2021 angegeben wurde.

Die Klägerin hielt die Kündigung wegen Verstoß gegen das Kündigungsverbot des § 17 Abs. 1 MuSchG für unwirksam.

Sie behauptete, zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs bereits schwanger gewesen zu sein.

Hiervon habe sie aber erst am 26.11.2020 Kenntnis erhalten. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen.

Die Berufung der Klägerin hat ebenfalls keinen Erfolg.

Das LAG Baden-Württemberg hat allerdings die Revision wegen Divergenz zugelassen.

Die Kündigung ist nicht gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 1 MuSchG unwirksam.

Für den Sonderkündigungsschutz des 17 Abs. 1 Nr. 1 MuSchG muss zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung eine Schwangerschaft bereits bestanden haben.

Eine solche liegt bei einer natürlichen Schwangerschaft ab der Befruchtung der Eizelle (Konzeption) vor.

Es ist – um die Sicherheit und den Schutz der schwangeren Arbeitnehmerin zu gewährleisten – vom frühestmöglichen Zeitpunkt einer Schwangerschaft auszugehen (EuGH, Urteil vom 26.02.2008 – C-506/06).

Die Beweislast für das Vorliegen einer Schwangerschaft zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung trägt jedoch die Arbeitnehmerin.

Zur Ermittlung des Beginns der Schwangerschaft wendet das BAG das Rechenmodell an, vom ärztlich festgestellten voraussichtlichen
Entbindungstermin 280 Tage zurückzurechnen.

Dieser Zeitraum umfasst die mittlere Schwangerschaftsdauer, die bei einem durchschnittlichen Menstruationszyklus zehn Lunarmonate zu je 28 Tagen – gerechnet vom ersten Tag der letzten
Regelblutung an – beträgt.

Er markiert die äußerste zeitliche Grenze, innerhalb derer bei normalem Zyklus eine Schwangerschaft vorliegen kann (BAG, Urteil vom 26.03.201 – 2 AZR 237/14).

Das LAG Baden-Württemberg will diesem Rechenmodell nicht folgen.

Der Schutzzeitraum wird durch das Rechenmodell des BAG in einer vom Normzweck nicht gebotenen Weise überdehnt.

Vom Normzweck soll nur die tatsächlich Schwangere geschützt werden.

Die Darlegungs- und Beweislast trägt die Arbeitnehmerin.

Wird die Darlegung und der Beweis über statistische Wahrscheinlichkeiten hergeleitet, ist dies allenfalls über einen Anscheinsbeweis möglich.

Der Anscheinsbeweis erleichtert einen Beweis aber nur bei typischen Geschehensabläufen.

Eine solche typische Wahrscheinlichkeitsbeurteilung kann nur für einen Zeitraum von 266 Tagen vor der (voraussichtlichen) Entbindung getroffen werden.

Die – letztlich fiktive – Vorverlegung des Schwangerschaftsbeginns auf den ersten Tag der letzten Regelblutung bezieht den Kündigungsschutz auf einen Zeitpunkt, zu dem eine Schwangerschaft nicht nur wenig wahrscheinlich, sondern extrem unwahrscheinlich und praktisch fast ausgeschlossen ist.

Rechnet man in diesem Fall von einem voraussichtlichen Entbindungstermin 05.08.2021 266 Tage zurück, so hätte ein Schwangerschaftsbeginn erst am 12.11.2020 vorgelegen, somit vier Tage nach Zugang der Kündigung.

Das BAG räumt in seiner Rechtsprechung selbst ein, dass mit dem bisher angewandten Rechenmodell die Berechnungsweise auch Tage in den Schutz einbezieht, in denen das Vorliegen einer Schwangerschaft eher unwahrscheinlich ist, da eine Befruchtung der Eizelle erst nach der Ovulation möglich ist, der durchschnittliche Zeitpunkt der Ovulation aber erst beim 12. bis 13. Zyklustag angenommen werde.

Weil es sich aber nur um eine Wahrscheinlichkeitsberechnung handele, müssten zum Schutz der Arbeitnehmerinnen alle Wahrscheinlichkeiten in den Schutzzeitraum einbezogen werden.