Der Europäische Gerichtshof hat am 13.01.2022 zum Aktenzeichen C-110/20 entscheiden, dass ein Mitgliedstaat innerhalb der von ihm festgelegten geografischen Grenzen demselben Unternehmen für aneinandergrenzende Gebiete mehrere Genehmigungen zur Prospektion, Exploration und Gewinnung von Kohlenwasserstoffen wie Erdöl oder Erdgas erteilen kann, sofern für alle Unternehmen ein nichtdiskriminierender Zugang zu diesen Tätigkeiten gewährleistet wird und die kumulativen Auswirkungen der Projekte beurteilt werden, die erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben können.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 3/22 vom 13.01.2022 ergibt sich:
Diese Anforderungen ergeben sich aus den maßgeblichen Rechtsvorschriften der Union zum Vergaberecht und zum Umweltschutz.
Global Petroleum, ein im Sektor für Offshore-Kohlenwasserstoffe tätiges australisches Unternehmen, stellte 2013 bei den italienischen Behörden vier gesonderte Anträge auf vier Genehmigungen zur Exploration von Kohlenwasserstoffen für aneinandergrenzende Gebiete im Adriatischen Meer vor der Küste der Region Apulien (Italien). Jeder Antrag betraf eine Fläche von etwas weniger als 750 km2. Nach italienischem Recht darf das Genehmigungsgebiet nicht größer als 750 km2 sein.
2016 und 2017 stellten die italienischen Behörden die Umweltverträglichkeit der vier Explorationsvorhaben von Global Petroleum fest.
Die Regione Puglia (Region Apulien) erhob bei den italienischen Gerichten Klagen, mit denen Global Petroleum im Ergebnis daran gehindert werden soll, ein Gesamtgebiet von ungefähr 3 000 km2 Meeresgrund auszubeuten. Die Region argumentierte, dass die Begrenzung von 750 km2 nicht nur für die einzelne Genehmigung, sondern auch für das einzelne Unternehmen gelten müsse, um eine „Umgehung“ der rechtlichen Regelung zu vermeiden.
Vor diesem Hintergrund hat der Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), das letztinstanzliche nationale Gericht, den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht. Das Gericht möchte wissen, ob die Richtlinie 94/22/EG1, die die Prospektion, Exploration und Gewinnung von Kohlenwasserstoffen betrifft, einen Mitgliedstaat verpflichtet, eine absolute Obergrenze für die Größe der Gebiete festzulegen, in denen ein einzelnes Unternehmen diese Tätigkeiten ausüben kann.
Mit seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Richtlinie 94/22/EG insbesondere Teil der Vorschriften über die öffentliche Auftragsvergabe ist. Er stellt fest, dass die Richtlinie vorsieht, dass die Größe der Gebiete, für die eine Genehmigung gilt, begrenzt und die Genehmigungen befristet sein müssen, um zu verhindern, dass einem Unternehmen ungerechtfertigterweise das ausschließliche Recht für ein Gebiet erteilt wird. Dem Gerichtshof zufolge sieht die Richtlinie aber keine Begrenzung hinsichtlich der Zahl der Genehmigungen und/oder der Zahl der Unternehmen vor, denen die Genehmigungen erteilt werden können.
Der Gerichtshof stellt weiter klar, dass zum einen die Begrenzung der geografischen Gebiete durch nationale Rechtsvorschriften und zum anderen die Vorschriften über die Verfahren und Modalitäten der Erteilung von Genehmigungen für die Prospektion, Exploration und Gewinnung von Kohlenwasserstoffen mehreren Zielen dienen. Beim ersten Ziel handelt es sich um die Gewährleistung der Transparenz und des nichtdiskriminierenden Zugangs zu den Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Prospektion, Exploration und Gewinnung von Kohlenwasserstoffen. Das zweite Ziel besteht in der Sicherstellung der Ausübung dieser Tätigkeiten unter Bedingungen, die den Wettbewerb in diesem Bereich anregen. Das dritte Ziel ist schließlich die Förderung der bestmöglichen Prospektion, Exploration und Gewinnung der Ressourcen in den Mitgliedstaaten sowie der weiteren Integration des Binnenmarkts für Energie.
Die Begrenzung der Fläche des von der Genehmigung zur Exploration von Kohlenwasserstoffen erfassten Gebiets muss außerdem geeignet sein, die aus technischer wie wirtschaftlicher Sicht bestmögliche Ausübung der Tätigkeiten zu gewährleisten. Wenn ein und dasselbe Unternehmen mehrere Genehmigungen beantragen kann, ist daher sicherzustellen, dass die Fläche, die von diesen Genehmigungen zusammen erfasst wird, ebenfalls die aus technischer wie wirtschaftlicher Sicht bestmögliche Ausübung der Tätigkeiten gewährleistet, ohne die Erreichung der anderen angestrebten Ziele zu gefährden.
Der Gerichtshof hat sich auch mit den sich aus der Richtlinie 2011/92/EU2 ergebenden Anforderungen des Umweltschutzes befasst, um dem italienischen Gericht umfassend zu antworten. Zum einen dient das italienische Verwaltungsverfahren nämlich auch dem Schutz von Umweltschutzinteressen, und zum anderen hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass die Technik, die von Global Petroleum für die Suche nach Kohlenwasserstoffen genutzt werde und die darin bestehe, einen „Airgun“ genannten Generator von komprimierter Luft mit hohem Druck zu verwenden, um seismische Wellen zu erzeugen, die auf den Meeresgrund träfen, für die Meeresfauna schädlich sein könne. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof geprüft, ob der Umstand, dass demselben Unternehmen mehrere Genehmigungen für aneinandergrenzende Gebiete erteilt werden dürfen, mit den Umweltschutzanforderungen vereinbar ist. Der Gerichtshof verweist im Einklang mit seiner Rechtsprechung darauf, dass sich die Berücksichtigung der kumulativen Auswirkungen von Projekten wie den in Rede stehenden als erforderlich erweisen kann, um eine Umgehung der Unionsregelung durch eine Aufsplitterung von Projekten zu verhindern, die zusammen genommen erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben können. Die zuständigen nationalen Behörden haben alle Umweltfolgen zu berücksichtigen, die sich aus der zeitlichen und räumlichen Begrenzung der von den Genehmigungen zur Exploration von Kohlenwasserstoffen erfassten Gebiete ergeben. Wenn die Regelung eines Mitgliedstaats es zulässt, dass ein und dasselbe Unternehmen mehrere Genehmigungen zur Exploration von Kohlenwasserstoffen beantragt, sind folglich auch die kumulativen Auswirkungen der Projekte zu beurteilen, die erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben können.
Im Ergebnis hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass eine nationale Regelung, die für die Größe des von einer Genehmigung zur Exploration von Kohlenwasserstoffen erfassten Gebiets eine Obergrenze vorsieht, aber nicht ausdrücklich verbietet, demselben Unternehmen mehrere Genehmigungen für aneinandergrenzende Gebiete mit einer die Obergrenze übersteigenden Gesamtfläche zu erteilen, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Dies gilt unter zwei Bedingungen: Erstens muss eine solche Erteilung geeignet sein, die aus technischer wie wirtschaftlicher Sicht bestmögliche Ausübung der betreffenden Explorationstätigkeit und die Erreichung der mit der Richtlinie 94/22 verfolgten Ziele zu gewährleisten. Zweitens sind im Rahmen der Umweltverträglichkeitsprüfung die kumulativen Auswirkungen der vom Unternehmen im Antrag auf Erteilung der Genehmigung zur Exploration von Kohlenwasserstoffen dargelegten Projekte, die erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben können, zu berücksichtigen3.
1 Richtlinie 94/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 1994 über die Erteilung und Nutzung von Genehmigungen zur Prospektion, Exploration und Gewinnung von Kohlenwasserstoffen (ABl. 1994, L 164, S. 3).
2 Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 2012, L 26, S. 1).
3 Siehe Pressemitteilung Nr. 114/21 zu den Schlussanträgen des Generalanwalts in dieser Rechtssache.