Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 27.05.2021 zum Aktenzeichen 6 Sa 20/21 entschieden, dass eine „außerordentliche Kündigung„, die auf die tariflichen Regelungen zur ordentlichen Kündigung Bezug nimmt, mit Blick auf das vom Kündigenden gemeinte Beendigungsdatum unbestimmt und daher insgesamt unwirksam ist.
Wörtlich heißt es in dem Kündigungsschreiben:
„Hiermit kündige ich das mit Ihnen seit dem 04.06.1996 bestehende Beschäftigungsverhältnis bei der B S A gemäß § 34 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Abs. 1 Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) außerordentlich.“
Der hier in Bezug genommene „§ 34 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Abs. 1 TVöD“ lautet hier verkürzt zitiert:
Bis zum Ende des sechsten Monats seit Beginn des Arbeitsverhältnisses beträgt die Kündigungsfrist zwei Wochen zum Monatsschluss. 2Im Übrigen beträgt die Kündigungsfrist bei einer Beschäftigungszeit … Monate zum Schluss eines Kalendervierteljahres.
Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten, die das 40. Lebensjahr vollendet haben und für die die Regelungen des Tarifgebiets West Anwendung finden, können nach einer Beschäftigungszeit (Absatz 3) von mehr als 15 Jahren durch den Arbeitgeber nur aus einem wichtigen Grund gekündigt werden.“
Die Kündigungserklärung nimmt also zunächst auf die Regelung zur tarifvertraglichen „Unkündbarkeit“ Bezug („§ 34 Abs. 2 S. 1“) und sodann auf die Kündigungsfristen bei einer ordentlichen Kündigung („… i.V.m. Abs. 1 TVöD), nämlich 6 Wochen, 3 Monate, 4 Monate, 5 Monate, 6 Monate, und nennt dann das ganze „außerordentlich“. Die von der Beklagten herangezogene Auslegungsregel, derzufolge die außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist ein Sonderfall sei und daher als Ausnahme von der Regel ausdrücklich bezeichnet werden müsse (Müller-Glöge in ErfK § 620 BGB Rn. 21), hilft hier nicht weiter. Mit der Bezugnahme auf § 34 Abs. 1 TVöD muss der Erklärungsempfänger davon ausgehen, dass irgendeine Frist gelten soll, eine fristlose Kündigung also nicht gemeint sein kann, folglich genau ein solcher Ausnahmefall vorliegt, in dem eine außerordentliche Kündigung nicht als fristlose Kündigung erkannt werden kann.
Darüber hinaus und vor allem fehlt es der Kündigung an einem wichtigen Grund. Wegen des tarifvertraglichen Ausschlusses einer ordentlichen Kündigung kam hier nur eine außerordentliche in Betracht. Sie setzt gemäß § 626 Abs. 1 BGB Tatsachen voraus, auf Grund derer der Arbeitgeberin unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Solche Tatsachen sind hier nicht ersichtlich. Weder rechtfertigt ein genesungshinderndes Verhalten die Annahme solcher Tatsachen, noch ist das Arbeitsverhältnis wegen einer zu Tage getretenen Arbeitsunlust des Klägers „inhaltsleer“ geworden.
Eine nachhaltige Vertragspflichtverletzung, die einen wichtigen Grund darstellen könnte, kann schon deshalb nicht angenommen werden, weil es an einer einschlägigen Abmahnung fehlt. Gemäß § 314 Abs. 2 BGB ist eine außerordentliche Kündigung erst nach erfolglosem Ablauf einer zur Abhilfe bestimmten Frist oder eben nach einer solchen erfolglosen Abmahnung zulässig. Ein Ausnahmefall, also ein Fall, bei dem in Abweichung von dieser gesetzlichen Regel eine Abmahnung entbehrlich wäre, liegt nicht vor. Der 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts hat einen solchen Ausnahmefall bei einem Arzt des medizinischen Dienstes angenommen, der während der Arbeitsunfähigkeit wegen einer Hirnhautentzündung einen Skikurs während eines „Kurzaufenthaltes in der Schweiz“ belegt hatte. In dieser Entscheidung heißt es auszugsweise (BAG v. 02.03.2006 – 2 AZR 53/05 –, Rn. 21 – 31):
Auch die erhebliche Verletzung von vertraglichen Nebenpflichten, insbesondere eine Verletzung der vertraglichen Rücksichtnahmepflichten iSv. § 241 Abs. 2 BGB, die dem Schutz und der Förderung des Vertragszwecks dienen […], kann ein wichtiger Grund an sich zur außerordentlichen Kündigung sein. Die vertragliche Rücksichtnahmepflicht verlangt von den Parteien eines Arbeitsverhältnisses, gegenseitig auf die Rechtsgüter und die Interessen der jeweils anderen Vertragspartei Rücksicht zu nehmen.
Der Arbeitnehmer hat seine Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis so zu erfüllen und die im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehenden Interessen des Arbeitgebers so zu wahren, wie dies von ihm unter Berücksichtigung seiner Stellung im Betrieb, seiner eigenen Interessen und der Interessen der anderen Arbeitnehmer des Betriebes nach Treu und Glauben billigerweise verlangt werden kann. Dabei ergibt sich der konkrete Inhalt aus dem jeweiligen Arbeitsverhältnis […]. Insbesondere bei Arbeitnehmern in einer leitenden Position im Betrieb oder Arbeitnehmern, die mit ihrer Tätigkeit spezifische Vertragspflichten übernommen haben, hat deren Stellung unmittelbaren Einfluss auf die vertragliche Pflichtenstruktur […]. Dies gilt umso mehr, wenn berechtigte Belange des Arbeitgebers erheblich gestört werden, weil das Verhalten des Arbeitnehmers geeignet ist, den Ruf des Arbeitgebers im Geschäftsverkehr zu gefährden.
Ein arbeitsunfähig erkrankter Arbeitnehmer muss sich so verhalten, dass er bald wieder gesund wird und an seinen Arbeitsplatz zurückkehren kann. Er hat alles zu unterlassen, was seine Genesung verzögern könnte. Der erkrankte Arbeitnehmer hat insoweit auf die schützenswerten Interessen des Arbeitgebers, die sich u.a. aus der Verpflichtung zur Entgeltfortzahlung ergeben, Rücksicht zu nehmen. Eine schwerwiegende Verletzung dieser Rücksichtnahmepflicht kann nach der Rechtsprechung des BAG eine außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund an sich rechtfertigen.
Deshalb kann ein pflichtwidriges Verhalten vorliegen, wenn ein Arbeitnehmer bei bescheinigter Arbeitsunfähigkeit den Heilungserfolg durch gesundheitswidriges Verhalten gefährdet. Damit verstößt er nicht nur gegen eine Leistungspflicht, sondern zerstört insbesondere auch das Vertrauen des Arbeitgebers in seine Redlichkeit.
Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer während der Krankheit nebenher bei einem anderen Arbeitgeber arbeitet […], sondern kann auch gegeben sein, wenn er Freizeitaktivitäten nachgeht, die mit der Arbeitsunfähigkeit nur schwer in Einklang zu bringen sind.
Die erhebliche Verletzung der vertraglichen Rücksichtnahmepflicht wiegt hier umso schwerer als der Kläger auf Grund seines beruflichen Aufgabenfeldes in besonderem Maße dazu verpflichtet war, das Vertrauen Außenstehender in die von ihm geleistete Arbeit und die korrekte Aufgabenerledigung seines Arbeitgebers nicht zu erschüttern.
Der hier zu entscheidende Fall kommt in keiner Facette dem Sachverhalt nahe, über den der 2. Senat zu befinden hatte. Der Kläger des hier zu entscheidenden Falles ist nicht in einer leitenden Position tätig; sein Verhalten ist nicht geeignet, berechtigte Belange der Arbeitgeberin erheblich zu stören, etwa weil es geeignet wäre, den Ruf der Arbeitgeberin im Geschäftsverkehr zu gefährden; die Verpflichtung der Beklagten zur Entgeltfortzahlung spielt nach mehr als zwei Jahren Arbeitsunfähigkeit keine Rolle; das Verhältnis der hier streitenden Parteien ist nicht durch ein besonderes berufliches Aufgabenfeld geprägt, aufgrund dessen der Kläger in besonderem Maße dazu verpflichtet gewesen wäre, das Vertrauen Außenstehender in die von ihm geleistete Arbeit und die korrekte Aufgabenerledigung seines Arbeitgebers nicht zu erschüttern. Die zitierte Entscheidung des 2. Senats ist durch seinen besonderen Sachverhalt geprägt gewesen: Ausgerechnet ein Arzt des medizinischen Dienstes, zu dessen Aufgaben es gehört, das tatsächliche Vorliegen von Arbeitsunfähigkeiten festzustellen und damit wirklich kranke Menschen von Simulanten zu trennen, geht in seiner Freizeit einer Tätigkeit nach, die mit der attestierten Krankheit nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Dieser eklatante Ausnahmefall hat nichts mit dem hier zu entscheidenden Fall eines psychisch kranken Luftsicherheitsassistenten zu tun. Nichts spricht hier dafür, eine Ausnahme von der Regel annehmen zu können, nämlich von der besagten Regel, dass eine außerordentliche Kündigung ohne zuvor erfolgte Abmahnung nicht in Betracht kommt.
Selbst wenn aber ein genesungswidriges Verhalten als tatsächlich vorliegend unterstellt würde und selbst wenn eine Abmahnung entgegen der vorangegangenen Ausführungen als überflüssig erachtet würde, dann wäre eine außerordentliche Kündigung allenfalls mit sozialer Auslauffrist möglich, denn wegen des Ruhens des Arbeitsverhältnisses ist nicht ersichtlich warum es der Beklagten nicht zumutbar wäre, diese soziale Auslauffrist abzuwarten.
Ein wichtiger Grund liegt auch nicht deshalb vor, weil das Arbeitsverhältnis, wie die Beklagte meint, „inhaltsleer“ geworden wäre, weil der Kläger an dem Arbeitsverhältnis „kein Interesse“ mehr habe. Der hiernach allein in Frage kommende Kündigungsgrund „Abkehrwille“ (vgl. dazu zuletzt LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 05.03. 2013 – 5 Sa 106/12 -) kommt mit seinem Ausnahmecharakter jedenfalls bei einem Arbeitnehmer, der wie der Kläger, seit mehr als zwei Jahren arbeitsunfähig ist und dem für einen Zeitraum von drei Jahren eine Rente wegen voller Erwerbsminderung genehmigt worden war, nicht in Betracht. Jedenfalls „wendet sich“ ein – außerhalb der Erwerbsminderungsrente und der Arbeitsunfähigkeit – in Vollzeit beschäftigter Luftsicherheitsassistent nicht dadurch von seinem Arbeitsverhältnis und seiner Arbeitsgeberin „ab“, indem eine geringfügige Beschäftigung als Hausmeister annimmt. Unter solchen Rahmenbedingungen müssen zur Manifestation eines Abkehrwillens weitere Tatsachen hinzutreten.