Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 05.02.2021 zum Aktenzeichen 10 Sa 731/20 entschieden, dass es nicht zu rechtfertigen ist, dass die von der Beklagtenseite angestrebten Ziele (Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und Förderung jüngerer Menschen) es bedingen, dass Arbeitsnehmer, die die Regelaltersgrenze bereits überschritten haben, von vornherein aus dem Stellenauswahlverfahren ausscheiden sollen.
Die Parteien streiten über einen Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Entschädigung wegen Altersdiskriminierung.
Der 74-jährige Kläger, Oberamtsrat a. D., bewarb sich bei der Beklagten mit E-Mail vom 24.07.2019 auf eine Stellenausschreibung für eine Stelle als Bürosachbearbeiterin/Bürosachbearbeiter, gemeinsames Geschäftszimmer, Abteilungsleitereinsatz/Abteilungsleitereinsatzunterstützung in der B T (Kenn-Nummer T – – ). Nachdem die Beklagte ihn mit E-Mail vom 31.07.2019 gebeten hatte, seine Bewerbung über den Online-Bewerbungsbogen einzureichen, antwortete der Kläger zunächst mit E-Mail vom selben Tag, dass er mit der Beklagten nicht arbeiten könne und bat um Stornierung seiner Bewerbung. Darauf reagierte die Beklagtenseite mit E-Mail vom 01.08.2019 und teilte dem Kläger mit, sie habe vermerkt, dass er seine Bewerbung zurückgezogen habe. Daraufhin bat der Kläger mit E-Mail ebenfalls vom 01.08.2019 um Kenntnisnahme, dass er grundsätzlich Interesse an der Stelle habe – aber der technische Kontakt zur Personalgewinnung ihm nicht möglich sei. Hierauf teilte die Beklagte dem Kläger mit E-Mail vom 05.08.2019 mit, sein bestehendes Interesse an der ausgeschriebenen Funktion sei dankend zur Kenntnis genommen worden. Nach Rücksprache mit dem Personaldienstleister könne dem Kläger mitgeteilt werden, dass er manuell in das Verfahren aufgenommen worden sei und somit seine Bewerbung berücksichtigt werden könne.
Mit E-Mail vom 19.09.2019 erklärte die Beklagte gegenüber dem Kläger, die Wahl in dem Besetzungsverfahren sei nicht auf den Kläger gefallen. Zur Begründung wies die Beklagte den Kläger darauf hin, dass der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, der im Bereich der Beklagten Grundlage der Vertragsbedingungen sei, in § 33 TVöD regele, dass ein Arbeitsverhältnis mit Ablauf des Monatsende, mit welchem Beschäftigte das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen der Regelaltersgrenze vollendet hätten. Die Beklagte habe ergänzend dazu die grundsätzliche Entscheidung getroffen, keine Arbeitsverhältnisse mit externen Personen zu begründen, die bereits die sogenannte Regelaltersgrenze erreicht hätten.
Der Kläger schrieb der Beklagten mit E-Mail vom 19.09.2019, die ablehnende Entscheidung stelle eine Altersdiskriminierung dar, die Schadensersatzansprüche für den Kläger auslöse. Mit Schreiben vom 23.09.2019 machte der Kläger eine Entschädigung nach § 15 Absatz 2 AGG in angemessener Höhe und dabei mindestens in Höhe von 10.000,00 € geltend.
Die Beklagte hat nicht hinreichend dargelegt und bewiesen, dass entgegen der Vermutung der Benachteiligung im Sinne des § 22 AGG nicht von einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot auszugehen ist.
Besteht eine Benachteiligungsvermutung, trägt die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass eine Verletzung nicht gegeben ist. Hierfür gilt nach § 286 Absatz 1 Satz 1 ZPO das Beweismaß des sogenannten Vollbeweises. Bei einer wegen des Alters vermuteten Benachteiligung ist die Darlegung und gegebenenfalls der Beweis von Tatsachen erforderlich, aus denen sich ergibt, dass es ausschließlich andere Gründe waren als das Alter, die zu der weniger günstigen Behandlung geführt haben, und dass in dem Motivbündel das Alter unerheblich war (vgl. BAG, Urteil vom 26.06.2014 – 8 AZR 547/13 -, Randnummer 40; Urteil vom 23.08.2012 – 8 AZR 285/11 -, Randziffer 34).
Die Zulässigkeit der Verfahrensweise der Beklagten ist nicht aus § 10 AGG herzuleiten.
Eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters ist nach § 10 Satz 1 AGG zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Gemäß § 10 Satz 2 AGG müssten die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sein. § 10 AGG dient der Umsetzung von Artikel 6 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf in das nationale Recht. Der Gesetzgeber hat bei der Umsetzung den Text der Richtlinie nahezu wörtlich in das nationale Recht übernommen. Dessen Regelungen sind unionsrechtskonform in Übereinstimmung mit der Richtlinie unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der europäischen Union (EuGH) auszulegen. Dieser hat darauf erkannt, dass legitime Ziele im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Richtlinie 2000/78/EG wegen der als Beispiele genannten Bereiche Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung solche aus dem Bereich „Sozialpolitik“ sind. Ziele, die als rechtmäßig im Sinne des Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie 2000/78/EG angesehen werden können, stehen als sozialpolitische Ziele im allgemeinen Interesse. Dadurch unterscheiden sie sich von Zielen, die im eigenen Interesse des Arbeitgebers liegen, wie Kostenreduzierung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine nationale Vorschrift bei der Verfolgung der sogenannten sozialpolitischen Ziele den Arbeitgebern einen gewissen Grad an Flexibilität einräumt. Eine unabhängig von Allgemeininteressen verfolgte Zielsetzung eines einzelnen Arbeitgebers kann aber keine Ungleichbehandlung rechtfertigen (vgl. BAG, Urteil vom 23.07.2015 – 6 AZR 457/14 -, Randziffer 36 m. w. N.). Nach § 10 Satz 1 AGG reicht es, ebenso wie nach Artikel 6 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Richtlinie 2000/78/EG – für die Rechtfertigung einer unmittelbaren Benachteiligung wegen des Alters nicht aus, dass der Arbeitgeber mit der unterschiedlichen Behandlung ein legitimes Ziel im Sinne von § 10 Satz 1 AGG verfolgt; hinzukommen muss nach § 10 Satz 2 AGG, dass die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Beides ist im Hinblick auf das konkret angestrebte Ziel zu beurteilen. Dabei sind in unionsrechtkonformer Auslegung von § 10 Satz 2 AGG die Mittel nur dann angemessen und erforderlich, wenn sie es erlauben, dass mit der unterschiedlichen Behandlung verfolgte Ziel zu erreichen, ohne zu einer übermäßigen Beeinträchtigung der legitimen Interessen derjenigen Personen zu führen, die wegen ihres Alters benachteiligt werden und die Maßnahme nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des angestrebten Ziels notwendig ist.
Um darzutun, dass eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters nach§ 10 AGG gerechtfertigt ist, reicht es nicht aus, wenn der Arbeitgeber allgemein behauptet, dass die die unterschiedliche Behandlung bewirkende Maßnahme oder Regelung geeignet sei, der Beschäftigungspolitik, dem Arbeitsmarkt und der beruflichen Bildung zu dienen. Derartige allgemeine Behauptungen lassen nämlich nicht den Schluss zu, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Der Arbeitgeber hat hierzu vielmehr substantiierten Sachvortrag zu leisten (vgl. BAG, Urteil vom 11.08.2016 – 8 AZR 406/14 -, Randziffer 77 ff. m. w. N.).
Grundsätzlich sind die von der Beklagtenseite angeführten Aspekte der Beschäftigungspolitik, des Arbeitsmarktes und der Förderung der Beschäftigung jüngerer Menschen als legitime Ziele im Sinne des § 10 AGG anzuerkennen. Allerdings sind diese legitimen Ziele nicht durch eine abschließende Gestaltung des Anforderungsprofils zu einem absoluten Maßstab zu machen, bei denen dann eine Prüfung auf Angemessenheit und Erforderlichkeit entgegen § 10 Satz 1 AGG nicht mehr stattfinden würde. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber seiner Darlegungslast nicht mit allgemeinen Ausführungen genügt, sondern substantiierten Sachvortrag zu leisten hat (vgl. BGH, Urteil vom 26.03.2019 – II ZR 244/17 -, Randziffer 39 m. w. N.). Eine substantiierte Darlegung, die auf konkrete eigene betriebsbezogene Aspekte der Beklagten abstellt, hat die Beklagtenseite nicht vorgetragen.
§ 33 Absatz 1 a) TVöD, auf den sich die Beklagtenseite hinsichtlich dessen Sinn und Zweck und Regelungsgehalt auch für ihre ablehnende Entscheidung gegenüber der Stellenbewerbung des Klägers beruft, ist vorliegend nicht einschlägig gemäß § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG. Vorliegend geht es nicht um eine Vereinbarung, die die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, zu dem der oder die Beschäftigte eine Rente wegen Alters beantragen kann. Die Regelung des Arbeitsvertragsendes durch das Erreichen der Regelaltersgrenze gemäߧ 33 Absatz 1 a) TVöD ist legitimiert durch die Absicherung der wirtschaftlichen Bedürfnisse des betreffenden Arbeitnehmers durch Erhalt der gesetzlichen Altersrente nach vorangegangener Beschäftigung im öffentlichen Dienst. Im vorliegenden Fall ist von einer solchen wirtschaftlichen Absicherung nicht hinreichend zwingend auszugehen (vgl. hierzu Sievers, in: Juris PK, § 10 AGG, Randziffer 65 ff. m. w. N.). Daher liegt vorliegend auch entgegen der Rechtsauffassung der Beklagtenseite kein Wertungswiderspruch zu der Regelung in § 33 Absatz 1 a) TVöD vor, wenn im vorliegenden Fall der Ablehnung der Stellenbewerbung des Klägers nicht von einer zulässigen unterschiedlichen Behandlung wegen des Alters im Sinne des § 10 AGG ausgegangen wird. § 33 Absatz 1 a) TVöD regelt den Regelfall des Bestandes des Arbeitsverhältnisses bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, nicht aber den hier einschlägigen besonderen Fall der Bewerbung eines Stellenkandidaten, der bereits die Regelaltersgrenze erreicht bzw. überschritten hat, für ein neues Arbeitsverhältnis. Auch wenn im vorliegenden Fall ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot gemäß § 7 AGG anzunehmen ist, kann § 33 Absatz 1 a) TVöD durch das Erfassen der dort einschlägigen Regelfälle dem ihm zuzuordnenden beschäftigungspolitischen Ziel durchaus gerecht werden.
§ 10 Satz 3 Nummer 3 AGG ist vorliegend nicht betroffen, da nicht erkennbar ist, dass spezifische Ausbildungsanforderungen oder die Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand für die ausgeschriebene Beschäftigung als Bürosachbearbeiter bei der Beklagten notwendig wären.
Eine hinreichende Rechtfertigung nach § 10 Satz 1, 2 AGG ist vorliegend nicht gegeben. Hierbei sind die Prüfungspunkte Angemessenheit und Erforderlichkeit der Vorgehensweise der Beklagtenseite zu berücksichtigen.
Es ist nicht zu rechtfertigen, dass die von der Beklagtenseite angestrebten Ziele (Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und Förderung jüngerer Menschen) es bedingen, dass Arbeitnehmer, die Regelaltersgrenze bereits überschritten haben, von vornherein aus dem Stellenauswahlverfahren ausscheiden sollen. Dies steht nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. Urteil vom 12.10.2010– C 45/09 -, Rosenbladt) und des Bundesarbeitsgerichts (vgl. Urteil vom 09.12.2015 – 7 AZR 68/14 -, Randziffer 37), wonach eine Altersgrenze geeignet ist, in der Vergangenheit begründete Arbeitsverhältnisse zu beenden, aber kein Verbot der Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit nach Überschreiten der Altersgrenze darstellt. Ein Verlust des Schutzes gegen die Ungleichbehandlung wegen des Alters tritt hierdurch nicht ein (vgl. LAG Niedersachsen, Urteil vom 01.08.2018 – 17 Sa 1302/17 -, Randziffer 78). Dem Landesarbeitsgericht Niedersachsen (a. a. O.) ist darin zu folgen, dass eine zulässige Altersgrenzenregelung es nämlich nicht rechtfertigt, Altersrentner von vornherein nicht in die Stellenauswahl einzubeziehen, sondern vorab ausscheiden zu lassen und ihnen damit die Chance zu versagen, den Arbeitgeber von ihrer Bewerbung zu überzeugen. Denkbar ist zum einen, dass sich auf eine ausgeschriebene Stelle unter Umständen nur Altersrentner bewerben oder es überhaupt nur eine Bewerbung gibt. Zudem ist nicht ausgeschlossen, im Rahmen des – unter Einbeziehung des Altersrentners – durchzuführenden Auswahlverfahrens das Lebensalter bzw. die im Einzelfall gegebene wirtschaftliche Absicherung durch Erhalt einer gesetzlichen Altersrente oder Beamtenpension als Kriterium der Auswahlentscheidung in die Gesamtabwägung miteinzubeziehen (vgl. zum Alter als Kriterium bei der Sozialauswahl, BAG, Urteil vom 06.07.2007 – 2 AZR 387/06 -; Urteil vom 22.01.2009 – 8 AZR 906/07 -, Randziffer 50 ff.). Daher ist die grundsätzliche Entscheidung, Bewerber, die die Regelaltersgrenze überschritten haben – und damit den Kläger – aus dem Stellenauswahlverfahren grundsätzlich ausscheiden zu lassen, nicht erforderlich, um die von ihr postulierten durchaus legitimen Ziele durchzusetzen.