Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 30. November 2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 2038/18 entschieden, dass eine vorläufige Sicherstellung von Gegenständen eines nicht selbst beschuldigten Steuerberaters gegen das Willkürverbot verstößt.
Mit Beschlüssen vom 16. November 2017 ordnete das Amtsgericht Münster die Durchsuchung der Wohn- und Geschäftsräume des Beschwerdeführers als Beschuldigter gemäß § 102 StPO sowie die Durchsuchung der Geschäftsräume der Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft, in welcher der Beschwerdeführer als Partner tätig ist, als Dritte gemäß § 103 StPO an.
Der Beschwerdeführer wendet sich im vorliegenden Fall gegen die Bestätigung der vorläufigen Sicherstellung diverser Aktenordner sowie mehrerer Daten-sätze durch die Fachgerichte.
Das Sichtungsverfahren gemäß § 110 StPO, bei dem die im Rahmen einer Durchsuchung gefundenen und zur Ermittlungsbehörde verbrachten Gegenstände auf ihre Beweiseignung und Beschlagnahmefähigkeit überprüft werden, bewegt sich zwischen der Durchsuchung und der Beschlagnahme. Dieses Verfahrensstadium ist damit der endgültigen Entscheidung über den Umfang der Beschlagnahme vorgelagert. Es wird noch dem Stadium der Durchsuchung zugeordnet, ist aber durch die Wegnahme von Sachen aus dem Gewahrsam der Betroffenen in seinen Wirkungen der Beschlagnahme angenähert.
Die angegriffenen Beschlüsse des Amtsgerichts Münster vom 2. Mai 2018 und des Landgerichts Münster vom 18. Juni 2018 treffen keine endgültige Beschlagnahmeanordnung im Sinne des § 98 StPO, sondern sind als Bestätigung der vorläufigen Sicherstellung zur Durchsicht analog § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO auszulegen. Denn weder die amtsgerichtliche noch die landgerichtliche Entscheidung enthalten Ausführungen zur konkreten Beweiseignung der Gegenstände. Vielmehr führt das Landgericht aus, dass die Frage eines Beweisverwertungsverbots „im Rahmen der Auswertung“ noch zu klären sei. Demnach sollte erst noch ermittelt werden, ob die sichergestellten Daten und Akten Informationen enthalten, die als Beweismittel von Bedeutung sein können (vgl. § 94 Abs. 1 und Abs. 2 StPO). Es handelt sich mithin um eine vorläufige Sicherstellung zur Durchsicht im Sinne des § 110 StPO.
Da das Verfahren im Stadium der Durchsicht noch einen Teil der Durchsuchung bildet, kommt es für die Rechtmäßigkeit der richterlichen Bestätigung einer vorläufigen Sicherstellung darauf an, ob die Voraussetzungen einer Durchsuchung zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Durchsicht vorliegen. Dabei müssen die Gründe der Durchsicht mit den Gründen für die Anordnung der Durchsuchung nicht notwendigerweise identisch sein und können im Detail andere Voraussetzungen bestehen als für die Durchsuchungsanordnung. Sind jedoch die Voraussetzungen einer Durchsuchung zum Entscheidungszeitpunkt über die Durchsicht nicht mehr gegeben, dann ist auch die Durchsicht als Teil der Durchsuchung nicht mehr zulässig. Es muss also zum Entscheidungszeitpunkt ein Anfangsverdacht bestehen und die Durchsicht zur Auffindung von Beweismitteln geeignet und verhältnismäßig sein. Ungeeignet ist die Durchsicht insbesondere, wenn Beweismittel aufgespürt werden sollen, die einem Beschlagnahmeverbot oder einem sonstigen Verwertungsverbot unterliegen.
Im vorliegenden Verfahren fehlt es an verfassungsrechtlich vertretbaren Ausführungen zur Zulässigkeit der vorläufigen Sicherstellung im Hinblick auf etwaige Beschlagnahmeverbote im Sinne des § 97 Abs. 1 stopp.
Dabei kommt es im Ergebnis nicht darauf an, dass das Landgericht ohne nähere Erörterung allein auf § 160a Abs. 1 und Abs. 4 Satz 1 StPO abstellt, der nicht auf § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO verweist, obwohl der Beschwerdeführer Steuerberater und Wirtschaftsprüfer (nicht aber Rechtsanwalt) ist und zudem ein gemäß § 160a Abs. 5 StPO nach herrschender Ansicht vorrangiges Beschlagnahmeverbot nach § 97 Abs. 1 StPO im Raum steht, das auch Gegenstände im Gewahrsam eines nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO zeugnisverweigerungsberechtigten Wirtschaftsprüfers und Steuerberaters umfasst.
Ein Beschlagnahmeverbot kommt zwar gemäß § 97 Abs. 2 Satz 2 StPO – ähnlich wie beim vom Landgericht geprüften § 160a Abs. 4 Satz 1 StPO – bei einem selbst beschuldigten Zeugnisverweigerungsberechtigten nicht in Betracht. Diese Rückausnahme vom Beschlagnahmeverbot setzt jedoch schon ihrem Wortlaut nach voraus, dass bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass der Zeugnisverweigerungsberechtigte an der Tat oder an einer Datenhehlerei, Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei beteiligt ist. Erforderlich ist daher ein konkretisierter Tatverdacht gegen den Zeugnisverweigerungsberechtigten selbst. Durchsuchung, Durchsicht oder Beschlagnahme dürfen nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Verdachts erforderlich sind, denn sie setzen einen Verdacht bereits voraus.
Zwar kann sich ein Tatverdacht auch erst nachträglich nach Durchführung (gegebenenfalls rechtswidriger) vorheriger Ermittlungsmaßnahmen ergeben. Auch im Falle eines sich erst nachträglich ergebenden Tatverdachts ist es jedoch zwingende Voraussetzung der Rechtmäßigkeit einer weiteren richterlich angeordneten Ermittlungsmaßnahme, dass der gegen einen Verdächtigen gerichtete Tatverdacht jedenfalls zum Zeitpunkt der richterlichen Entscheidung vorliegt. Gerade auch der Tatverdacht gegen einen Zeugnisverweigerungsberechtigten muss zum Entscheidungszeitpunkt vorliegen (vgl. Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 97 Rn. 20). Nicht ausreichend ist, dass der Tatverdacht erst durch das (unzulässig) sichergestellte beziehungsweise beschlagnahmte Beweismittel entsteht. Eine Ermittlungsmaßnahme vorzunehmen, um erst durch die Auswertung der dabei gewonnenen Erkenntnisse möglicherweise einen Tatverdacht gegen den Berufsgeheimnisträger begründen und sich auf die Rückausnahme des § 97 Abs. 2 Satz 2 StPO berufen zu können, ist mit dem Schutzzweck des § 97 Abs. 1 StPO unvereinbar und ließe diesen leerlaufen.
Die Ausführungen des Landgerichts, wonach ein Anfangsverdacht (nur) gegen die Beschuldigten A. und B. zur Sicherstellung von möglicherweise beschlagnahmefreien Gegenständen genüge, soweit sich (erst) durch den Vollzug oder im Nachgang an die anzuordnende Ermittlungsmaßnahme möglicherweise ein Tatverdacht gegen den Berufsgeheimnisträger ergebe, sind danach unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar. Soweit der Anfangsverdacht als Voraussetzung einer Durchsicht geprüft wird, stellen das Amtsgericht und das Landgericht einzig auf den Tatverdacht gegen die beiden Beschuldigten A. und B. ab. Soweit dann in einem weiteren Prüfungsschritt die Frage möglicher Beschlagnahmeverbote im Hinblick auf etwaige vertrauliche Kommunikation mit einem Berufsgeheimnisträger im Raum steht, stellen die Fachgerichte dagegen auf die potentielle (durch die Durchsicht erst noch zu ermittelnde) Tatbeteiligung des Beschwerdeführers ab, weswegen etwaige Beschlagnahmeverbote derzeit nicht in Betracht kämen. Der Verzicht auf einen Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer zum Entscheidungszeitpunkt einerseits bei gleichzeitiger Verneinung eines etwaigen Beschlagnahmeverbots wegen der potentiellen Tatbeteiligung des Beschwerdeführers andererseits ist widersprüchlich und kombiniert in nicht mehr vertretbarer Weise die Voraussetzungen einer Durchsicht beim Verdächtigen und beim Nichtverdächtigen mit dem Ergebnis, dass zum fachgerichtlichen Entscheidungszeitpunkt weder ein Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer erforderlich ist, noch die mögliche Einschlägigkeit von Beschlagnahmeverboten gemäß § 97 Abs. 1 StPO und damit die Eignung und Angemessenheit der Durchsicht überhaupt näher zu prüfen und zu begründen wären. Die Voraussetzungen einer Durchsicht von bei einem Berufsgeheimnisträger sichergestellten Gegenständen werden auf diese Weise derart weit unter das von der Strafprozessordnung vorgegebene Maß abgesenkt, dass die Beschlüsse einer Prüfung am Willkürmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG nicht standhalten.