Polen verstößt mit Teilen der Justizreform gegen EU-Recht

16. November 2021 -

Der Europäische Gerichtshof hat am 16.11.2021 zum Aktenzeichen C-748/19, C-749/19, C-750/19, C-751/19, C-752/19, C-753/19, C-754/19 entschieden, dass die in Polen geltende Regelung, nach der der Justizminister, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist, Richter an Strafgerichte höherer Ordnung abordnen und eine solche Abordnung jederzeit beenden kann, unionsrechtswidrig ist.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 204/2021 vom 16.11.2021 ergibt sich:

Wegen des Erfordernisses der richterlichen Unabhängigkeit müssen die für die Abordnung von Richtern geltenden Rechtsvorschriften nämlich gerade in Strafsachen die erforderlichen Garantien dafür aufweisen, dass die Abordnung eines Richters in keinem Fall als Instrument zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird.

Der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) fragt sich in sieben bei ihm anhängigen Strafsachen, ob die Zusammensetzung der entsprechenden Spruchkörper, denen ein vom Justizminister gemäß dem Gesetz über die Organisation der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Ustawa Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über die Organisation der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 in der in den Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung – Dz. U. 2019, Pos. 52) abgeordneter Richter angehört, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Das vorlegende Gericht führt insoweit aus, dass der Justizminister einen Richter nach den polnischen Rechtsvorschriften über die Abordnung von Richtern an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen könne. Die Kriterien, nach denen eine solche Abordnung erfolge, seien nicht offiziell bekannt. Die Entscheidung über die Abordnung unterliege auch keiner gerichtlichen Kontrolle. Im Übrigen könne der Justizminister die Abordnung jederzeit beenden. Für die entsprechende Entscheidung seien keine im Voraus bestimmten Kriterien maßgeblich, und die Entscheidung müsse auch nicht begründet werden.
Das vorlegende Gericht hat deshalb beschlossen, den Gerichtshof darüber entscheiden zu lassen, ob die genannten Rechtsvorschriften mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vereinbar sind und ob sie gegen die in Strafverfahren geltende Unschuldsvermutung verstoßen, die sich insbesondere aus der Richtlinie 2016/343 (Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren – ABl. 2016, L 65, S. 1) ergibt. Die Vorschrift lautet: „Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“

Mit seinem Urteil entscheidet der Gerichtshof (Große Kammer), dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und die Richtlinie 2016/343 (Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343) innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die polnischen Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, zu denen das Regionalgericht Warschau gehört, Bestandteil des polnischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind. Um zu gewährleisten, dass solche Gerichte in der Lage sind, den nach dieser Bestimmung erforderlichen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass ihre Unabhängigkeit gewahrt ist. Das Erfordernis der Unabhängigkeit verlangt u. a., dass die Regelung betreffend die Abordnung der Richter die erforderlichen Garantien dafür bietet, dass eine solche Regelung in keinem Fall als Instrument zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird.

Insoweit stellt der Gerichtshof fest, dass, auch wenn es eine wichtige Verfahrensgarantie darstellt, dass der Justizminister einen Richter nur mit dessen Zustimmung abordnen kann, es eine Reihe von Umständen gibt, die ihn nach Auffassung des vorlegenden Gerichts in die Lage versetzen, die abgeordneten Richter zu beeinflussen, so dass Zweifel an deren Unabhängigkeit entstehen können. Zu diesen Umständen führt der Gerichtshof im Einzelnen aus, dass die Entscheidung über die Abordnung eines Richters und die Entscheidung, mit der die Abordnung beendet wird, zur Vermeidung von Willkür und Manipulationen anhand von im Vorhinein bekannten Kriterien getroffen werden und ordnungsgemäß begründet werden müssen. Außerdem muss die Beendigung der Abordnung eines Richters ohne dessen Zustimmung vor den Gerichten nach einem Verfahren angefochten werden können, das die Verteidigungsrechte in vollem Umfang gewährleistet. Ein solche Maßnahme kann für einen Richter nämlich Wirkungen haben, die mit denen einer Disziplinarstrafe vergleichbar sind. Der Gerichtshof weist ferner darauf hin, dass der Justizminister gleichzeitig das Amt des Generalstaatsanwalts ausübt, und stellt fest, dass der Justizminister so in einer bestimmten Strafsache über Macht sowohl über den Staatsanwalt der ordentlichen Gerichtsbarkeit als auch über die abgeordneten Richter verfügt, was geeignet ist, bei den Rechtsunterworfenen begründete Zweifel an der Unparteilichkeit der abgeordneten Richter aufkommen zu lassen. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass Richter, die an Spruchkörper abgeordnet sind, die in den Ausgangsverfahren zu entscheiden haben, gleichzeitig als stellvertretende Disziplinarbeauftragte der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit tätig sind. Der Disziplinarbeauftragte ist damit betraut, die Disziplinarverfahren gegen Richter durchzuführen. Vor dem Hintergrund, dass die stellvertretenden Disziplinarbeauftragten ebenfalls vom Justizminister ernannt werden, ist die gleichzeitige Ausübung des Amts eines abgeordneten Richters und des Amts des stellvertretenden Disziplinarbeauftragten aber geeignet, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfindlichkeit der anderen Mitglieder der betreffenden Spruchkörper für äußere Faktoren zu wecken.

Diese verschiedenen Umstände lassen – vorbehaltlich der insoweit vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden abschließenden Würdigung – insgesamt betrachtet den Schluss zu, dass der Justizminister auf der Grundlage von Kriterien, die nicht bekannt sind, befugt ist, Richter an Gerichte höherer Ordnung abzuordnen und die Abordnung jederzeit, ohne seine Entscheidung begründen zu müssen, zu beenden, so dass die abgeordneten Richter während der Dauer der Abordnung nicht über die Garantien und die Unabhängigkeit verfügen, über die ein Richter in einem Rechtsstaat normalerweise verfügen muss. Eine solche Befugnis ist nicht mit der Verpflichtung zur Beachtung des Erfordernisses der Unabhängigkeit vereinbar.

Im Übrigen setzt die Unschuldsvermutung in Strafverfahren, für deren Beachtung die Richtlinie 2016/343 sorgen soll (vgl. 22. Erwägungsgrund und Art. 6 der Richtlinie 2016/343), voraus, dass der Richter unparteiisch und unvoreingenommen ist, wenn er die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten prüft. Die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Richter sind daher wesentliche Voraussetzungen für die Gewährleistung der Unschuldsvermutung. Im vorliegenden Fall können die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Richter und damit die Unschuldsvermutung unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens beeinträchtigt werden.