Der Europäische Gerichtshof hat am 11.11.2021 zum Aktenzeichen C-168/20 entschieden, dass ein Mitgliedstaat den grundsätzlich vollständigen und automatischen Ausschluss von Rentenansprüchen aus der Insolvenzmasse nicht davon abhängig machen darf, dass das Altersversorgungssystem, aus dem sich diese Ansprüche ergeben, zuvor in diesem Land steuerlich anerkannt worden ist, wenn dieses System bereits im Herkunftsmitgliedstaat des zugewanderten Unionsbürgers anerkannt wurde.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 200/2021 vom 11.11.2021 ergibt sich:
Eine solche Beschränkung der Niederlassungsfreiheit kann jedoch gerechtfertigt sein, wenn sie auf einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses beruht, geeignet ist, das mit ihr verfolgte Ziel zu erreichen, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Herr M war ein bedeutender Bauunternehmer, und zwar vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, in Irland. Im Dezember 2002 hatte eine Gesellschaft irischen Rechts (MMC), über die Herr M seine Tätigkeiten ausübte, zu dessen Gunsten ein dem irischen Recht unterliegendes betriebliches Altersversorgungssystem in Form einer bei ILA abgeschlossenen und dem irischen Recht unterliegenden Versicherung errichtet. Im Juli 2009 gründete Herr M eine neue Gesellschaft irischen Rechts (S Industries), bei der er Geschäftsführer und Angestellter war. Mit öffentlicher Urkunde vom 31. August 2009 errichtete S Industries ihr eigenes dem irischen Recht unterliegendes Altersversorgungssystem, dessen einzige Begünstigte in Wirklichkeit Herr M, seine Ehefrau und sein Sohn waren. Dieses Altersversorgungssystem wurde von den irischen Steuerbehörden als solches anerkannt. Am 7. Dezember 2009 übertrug MMC die bei ILA abgeschlossene Versicherung auf Herrn M, seine Ehefrau und MH. Damit wurde diese Versicherung in das Altersversorgungssystem von S Industries integriert. Aufgrund dieser Versicherung sollten zum Zeitpunkt des Eintritts in den Ruhestand von Herrn M oder seines vorzeitigen Todes Leistungen gezahlt werden.
Infolge der Finanzkrise und wegen des Zusammenbruchs des irischen Immobilienmarkts wurde MMC im November 2010 in Irland liquidiert. Im Juli 2011 ließ sich Herr M mit seiner Ehefrau dauerhaft in London (Vereinigtes Königreich) nieder. Die Gesellschaft S Industries, die seit Dezember 2011 eine Niederlassung in London hatte, wurde im April 2012 ebenfalls im Vereinigten Königreich als ausländische Gesellschaft eingetragen.
Da Herr M hohe Schulden angehäuft hatte, wurde vom High Court of Justice (Hoher Gerichtshof, Vereinigtes Königreich) auf Antrag von Herrn M das Insolvenzverfahren über sein Vermögen eröffnet. Mit bei demselben Gericht gestelltem Antrag forderten die Insolvenzverwalter, die in dem Altersversorgungssystem enthaltenen Ansprüche aus der Versicherung der Insolvenzmasse zuzusprechen. Nach Ansicht der Insolvenzverwalter hatte diese Versicherung am 19. August 2020 einen Wert von 8 462 870,24 Euro, was Herr M bestreitet.
Der High Court of Justice ersucht den Gerichtshof im Wesentlichen um Klärung der Frage, ob die vom Unionsrecht gewährleistete Niederlassungsfreiheit insolvenzrechtlichen Vorschriften des Vereinigten Königreichs entgegensteht, nach denen Rentenansprüche aus Altersversorgungssystemen, die bei den Steuerbehörden eines anderen Mitgliedstaats, im vorliegenden Fall Irland, eingetragen sind, in einem im Vereinigten Königreich eingeleiteten Verfahren nur dann für den grundsätzlich vollständigen und automatischen Ausschluss von Rentenansprüchen aus einem Altersversorgungssystem von der Insolvenzmasse in Betracht kommen, wenn diese Systeme auch im Vereinigten Königreich anerkannt sind.
Mit seinem Urteil vom 11.11.2021 entscheidet der Gerichtshof, dass das Unionsrecht einer Bestimmung des Rechts eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach der grundsätzlich vollständige und automatische Ausschluss von Rentenansprüchen aus einem Altersversorgungssystem von der Insolvenzmasse voraussetzt, dass das betreffende System zum Zeitpunkt der Insolvenz in diesem Staat steuerlich anerkannt war, wenn diese Voraussetzung in einer Situation gilt, in der einem Unionsbürger, der vor seiner Insolvenz von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem er sich dauerhaft in diesem Staat niedergelassen hat, um dort eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, Rentenansprüche aus einem Altersversorgungssystem zustehen, das in seinem Herkunftsmitgliedstaat errichtet und steuerlich anerkannt wurde. Die in dieser nationalen Bestimmung enthaltene Beschränkung der Niederlassungsfreiheit kann jedoch gerechtfertigt sein, wenn sie auf einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses beruht, geeignet ist, das mit ihr verfolgte Ziel zu erreichen, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Würdigung des Gerichtshofs
Vorab weist der Gerichtshof darauf hin, dass er gemäß dem Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft1 weiterhin für das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zuständig ist, weil es vor Ende des Übergangszeitraums, d. h. des Zeitraums, der am 31. Dezember 2020 abgelaufen ist, vorgelegt worden ist. Da Herr M, der aufgrund seiner irischen Staatsangehörigkeit Unionsbürger ist, vor dem Ende dieses Übergangszeitraums von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, im Vereinigten Königreich zu wohnen, und nach diesem Zeitraum dort weiterhin wohnt, genießt er gemäß dem Austrittsabkommen den von diesem Abkommen gewährten Schutz. Als Selbständiger verfügt Herr M in seinem „Aufnahmestaat“, also dem Vereinigten Königreich, u. a. über die durch Art. 49 AEUV garantierten Rechte, zu denen das „Recht auf Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten“ gehört.
Der Gerichtshof stellt fest, dass das Ausgangsverfahren Rentensprüche von Herrn M aus einem Altersversorgungssystem betrifft, die auf eine selbständige Tätigkeit zurückgehen, die er in seinem Herkunftsmitgliedstaat ausgeübt hat, bevor er sich im Aufnahmemitgliedstaat niedergelassen hat. Demzufolge ist Art. 49 AEUV eindeutig auf einen Sachverhalt wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar, so dass der Gerichtshof weder Art. 21 AEUV noch Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/382 auszulegen braucht.
Er führt weiter aus, dass die insolvenzrechtlichen Vorschriften des Vereinigten Königreichs den vollständigen und automatischen Ausschluss von Rentenansprüchen aus der Insolvenzmasse davon abhängig machen, dass das Altersversorgungssystem, aus dem sich diese Ansprüche ergeben, zuvor im Vereinigten Königreich steuerlich anerkannt worden ist. Dies wird auch dann verlangt, wenn es sich um ein Altersversorgungssystem handelt, das im Herkunftsmitgliedstaat des betreffenden Unionsbürgers vor seiner dauerhaften Niederlassung im Vereinigten Königreich errichtet und bereits anerkannt wurde.
Da diese Systeme aber de facto im Regelfall nicht im Vereinigten Königreich steuerlich anerkannt werden, kommt auf die Ansprüche aus diesen Systemen meistens nur eine Regelung zur Anwendung, die einen deutlich begrenzteren Ausschluss von der Insolvenzmasse vorsieht, nämlich einen teilweisen und im Ermessen stehenden Ausschluss.
Unter diesen Umständen entscheidet der Gerichtshof, dass die in Rede stehende nationale Regelung als mittelbar diskriminierend anzusehen ist und gegen die in Art. 49 AEUV festgelegte Gleichbehandlungsregel verstößt. Sie stellt daher eine nach dieser Bestimmung verbotene Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, sofern diese Beschränkung unionsrechtlich gerechtfertigt ist.
Im Zuge der Prüfung dieser Frage weist der Gerichtshof darauf hin, dass eine solche Beschränkung einer durch den AEU-Vertrag verbürgten Grundfreiheit nur zulässig ist, wenn die fragliche nationale Maßnahme auf einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses beruht, wenn sie geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Insoweit ist der Gerichtshof der Auffassung, dass vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht ein solcher zwingender Grund des Allgemeininteresses zwar möglicherweise besteht, dass dieser jedoch einer Präzisierung zu bedürfen scheint, wenn man das spezielle Ziel der nationalen Regelung berücksichtigt, das darin besteht, ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen einem angemessenen Schutz der Interessen des Insolvenzschuldners und dem Schutz der finanziellen Interessen der Gläubiger des Insolvenzschuldners daran, zumindest einen Teil ihrer Forderungen aus der Insolvenzmasse zu befriedigen, sicherzustellen. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob, was Altersversorgungssysteme betrifft, die bereits in einem Mitgliedstaat der Union, nicht aber im Vereinigten Königreich steuerlich anerkannt sind, das Erfordernis einer zusätzlichen und vor der Insolvenz erfolgenden Anerkennung solcher Altersversorgungssysteme durch die britischen Steuerbehörden als Voraussetzung, die erfüllt sein muss, damit die betreffenden Rentenansprüche für den in der nationalen Regelung vorgesehenen grundsätzlich vollständigen und automatischen Ausschluss in Betracht kommen, in angemessenem Verhältnis zu dem mit dieser Bestimmung verfolgten Ziel steht.
1 Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 1).
2 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).