Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 06. September 2021 zum Aktenzeichen 1 BvR 1750/21 entschieden, dass eine Zuteilung des Sorgerechts an den Vater verfassungswidrig ist.
Die Beschwerdeführerin ist die Mutter eines im Oktober 2008 geborenen Kindes. Die nicht miteinander verheirateten Eltern übten die elterliche Sorge zunächst gemeinsam aus. Nach ihrer Trennung im Jahr 2013 strengten sie verschiedene gerichtliche Verfahren über das Sorge- und das Umgangsrecht an.
Im hier gegenständlichen Verfahren beantragten beide Eltern die Übertragung der elterlichen Sorge jeweils auf sich alleine. Die Haltung des Kindes gegenüber den Eltern änderte sich im Laufe der Verfahren. Bei einer Anhörung im März 2016 erklärte es noch, gerne bei der Mutter zu leben und nicht gerne zum Vater zu gehen. Am 28. Juni 2018 verließ das Kind allerdings den mütterlichen Haushalt, indem es sich an eine Ansprechpartnerin des freien Trägers der Jugendhilfe wandte, die den Vater informierte. Dieser holte das Kind von der Schule ab. Seitdem lebt das Kind ohne Kontakt zur Beschwerdeführerin bei ihm.
Das Amtsgericht holte daraufhin ein Gutachten der Sachverständigen Diplom-Psychologin W. ein. Der Vater verweigerte unter Berufung auf eine Weigerung des Kindes die weitere Mitwirkung an diesem Gutachten, das deswegen vorzeitig abgeschlossen wurde. Die Sachverständige gelangte zu dem Ergebnis, dass die Mutter besser in der Lage sei, das Kind zu betreuen und zu erziehen, weil die Eskalation des Elternkonflikts seit Jahren aus psychologischer Sicht einseitig vom Kindesvater betrieben und das Wohl des Kindes vernachlässigt werde. Sie ging von einer Unbeachtlichkeit des kindlichen Willens aus, weil es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um einen durch den Vater und professionelle Berater induzierten Willen handle. Nach der Erstattung des Gutachtens wandte sich die Sachverständige im Februar 2019 an das Familiengericht und wies darauf hin, dass für das Kind ihres Erachtens eine akute psychische Kindeswohlgefährdung vorliege und es nicht im Haushalt des Vaters bleiben, sondern zeitlich begrenzt extern untergebracht werden sollte.
Das Familiengericht beauftragte im April 2019 den Diplom-Psychologen A. mit dem Erstellen eines weiteren Gutachtens. Darin kam der Sachverständige A. zu dem Ergebnis, der Vater leide unter einer wahnhaften Störung und beziehe sein Kind in das Wahngeflecht ein. Bei einem Verbleib des Kindes im Haushalt des Vaters sei das Wohl des Kindes massiv gefährdet. Der Sachverständige empfahl, das Kind nicht sofort in den mütterlichen Haushalt zu überführen, sondern es zunächst in einer wohnortnahen Kinder- und Jugendpsychiatrie aufnehmen zu lassen, um therapeutische Maßnahmen einleiten zu können.
Mit Beschluss vom 23. April 2020 übertrug das Familiengericht der Beschwerdeführerin das alleinige Sorgerecht. Ferner gab es ihr auf, das Kind zunächst in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Nähe ihres Wohnortes behandeln zu lassen.
Auf eine Beschwerde des Vaters und des Jugendamts änderte das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 2. Juli 2020 die Entscheidung des Familiengerichts ab und übertrug dem Kindesvater das alleinige Sorgerecht. Unter Beachtung der Ausführungen des Jugendamtes sei dem Wohl des Kindes am besten bei einer Übertragung des Sorgerechts auf den Vater allein gedient. Die Grundlage der von der Sachverständigen W. angenommenen besseren Erziehungseignung der Mutter sei aufgrund der Angaben des Kindes in der vom Oberlandesgericht durchgeführten Anhörung entfallen. Die Schlussfolgerungen des Sachverständigen A. hielt das Oberlandesgericht nicht für schlüssig; diese seien auch nicht durch die Kindesanhörung bestätigt worden. Ein Einwirken des Vaters auf das Kind, das vor dem Wechsel zu diesem bei der Mutter gelebt habe, sei nicht plausibel. Für die Annahme einer psychischen Erkrankung des Vaters fehle es an plausiblen Anknüpfungstatsachen; der Sachverständige habe auch nicht schlüssig und nachvollziehbar darzulegen vermocht, auf welche Weise es zu einer Übertragung der angenommenen Störung auf das Kind kommen solle und welche konkreten kindeswohlgefährdenden Auswirkungen dies mit sich bringe.
Das Oberlandesgericht weicht mit der auf § 64 Abs. 3 FamFG gestützten Aussetzung der Vollziehung der Entscheidung des Familiengerichts von den Empfehlungen der erstinstanzlich eingeholten Sachverständigengutachten ab, ohne in der Begründung eine hinreichend zuverlässige Grundlage für diese abweichende Entscheidung darzulegen. Ferner lässt die Entscheidung keine zuverlässige Grundlage für die Annahme einer Kindeswohlgefährdung im Falle der Umsetzung der amtsgerichtlichen Entscheidung erkennen
Das Oberlandesgericht weicht von den Empfehlungen der im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten ab, ohne diese Abweichung tragfähig zu begründen und ohne hierfür eine hinreichend zuverlässige anderweitige Entscheidungsgrundlage erkennen zu lassen. Die Kammer hat in der Entscheidung über die Aufhebung der Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts ausgeführt, dass ein Abweichen von diesen Empfehlungen der Sachverständigen einer eingehenden Begründung bedarf, nachdem das Amtsgericht ‒ gestützt auf die Sachverständigengutachten ‒ festgestellt hat, dass der Vater in Bezug auf die Mutter wahnhafte Vorstellungen hat, die er durch beeinflussende Verhaltensweisen auf das Kind überträgt, und dass dadurch eine Gefährdung des Kindeswohls besteht. Dabei werden die Anknüpfungstatsachen, auf denen die Annahme wahnhafter Vorstellungen des Vaters beruhen, in den Sachverständigengutachten ausführlich und nachvollziehbar dargestellt.
Auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten des einstweiligen Rechtsschutzes wird das Oberlandesgericht den genannten Begründungsanforderungen nicht gerecht. Die angegriffene Entscheidung enthält keine nachvollziehbare Begründung für dieses Abweichen von den Empfehlungen beider Sachverständiger. Das Oberlandesgericht begründet weder nachvollziehbar, dass die Sachverständigengutachten aufgrund fachlicher Fehler nicht verwertbar sind, noch tragfähig, dass das Kindeswohl die Aufrechterhaltung des Aufenthalts beim Vater trotz der vom Amtsgericht festgestellten Kindeswohlgefährdung gebietet.
Mit der angegriffenen Entscheidung hat das Oberlandesgericht die Vollziehung der Entscheidung des Amtsgerichts im Hinblick auf das Aufenthaltsbestimmungsrecht außer Vollzug gesetzt, um den Aufenthalt des Kindes beim Vater für die Dauer des Verfahrens nicht zu verändern. Es hält damit die vom Amtsgericht gestützt auf zwei Sachverständigengutachten als kindeswohlgefährdend festgestellte Situation aufrecht. Diesbezüglich hat insbesondere der Sachverständige A. dargestellt, dass der Vater nach seinen eigenen Angaben von einer Tätigkeit der Beschwerdeführerin als Prostituierte ausgeht; er meint, sie habe jede Nacht Geschlechtsverkehr mit anderen Männern, erinnere sich wegen einer „Teildemenz“ hieran aber nicht. Er hätte sie für 20.000 Euro freikaufen können, aber nicht das Geld hierfür gehabt. Außerdem werde sie vom Bundesnachrichtendienst überwacht. Ein dort tätiger Freund würde ihm das Material für 20.000 Euro überlassen. Der Sachverständige A. legt auch dar, dass der Vater das Kind in diese Vorstellungswelt einbezieht. Indem er in Anwesenheit des Kindes behaupte, die Mutter würde ihm auflauern und es entführen, vermittelt er nach Einschätzung des Sachverständigen dem Kind den Eindruck, es müsse sich vor der Mutter und deren Umfeld hüten.
Weder mit diesen von der Kammer ausdrücklich benannten Gesichtspunkten noch mit der erstinstanzlichen Entscheidung oder den Sachverständigengutachten im Übrigen setzt sich das Oberlandesgericht in der angegriffenen Entscheidung auseinander. Es führt lediglich aus, die Frage der Kindeswohlgefährdung werde neu zu beurteilen sein und es werde eine Kindeswohlgefährdung durch den Wechsel zur Beschwerdeführerin zu prüfen sein. Diese Ausführungen genügen aber nicht, um von der Empfehlung der Sachverständigen abzuweichen, das Kind aus dem Haushalt des Vaters zu nehmen und einen Wechsel in den Haushalt der Mutter vorzunehmen. Tragfähige Ausführungen zur Verwertbarkeit der Sachverständigengutachten enthält die angegriffene Entscheidung nicht. Soweit das Oberlandesgericht auf den zwischenzeitlichen Zeitablauf Bezug nimmt, ergibt sich daraus nicht, dass die Gutachten als veraltet anzusehen sind. Eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse stellt das Oberlandesgericht nicht fest. Es benennt keine weiteren Erkenntnisquellen, die die Annahme rechtfertigen könnten, dass der weitere Verbleib des Kindes beim Vater dem Kindeswohl besser dient als die Umsetzung der amtsgerichtlichen Entscheidung und damit der Empfehlung der Sachverständigen.
Der Hinweis darauf, dass nicht absehbar sei, ob die amtsgerichtliche Entscheidung auch der abschließenden Entscheidung im Beschwerdeverfahren entspreche, genügt ebenfalls nicht, um eine Abweichung von der Empfehlung der Sachverständigen zu begründen. Die Unabsehbarkeit einer Hauptsacheentscheidung ist der vorläufigen Entscheidung in gerichtlichen Verfahren immanent. Dies rechtfertigt jedoch nicht, die bislang im Verfahren gewonnenen Erkenntnisse außer Betracht zu lassen. Eine vorläufige Regelung des Sorgerechts bedarf vielmehr der umfassenden Würdigung dieser Erkenntnisse. Hier lag durch die amtsgerichtliche Entscheidung und die Ermittlungen des Amtsgerichts eine umfangreiche Grundlage für die Bewertung des Kindeswohls vor, mit der sich das Oberlandesgericht hätte auseinandersetzen und dadurch hätte konkret darlegen müssen, warum nach dem jetzigen Sachstand von den Feststellungen des Amtsgerichts abzuweichen ist.
Eine mögliche Kindeswohlgefährdung durch die Umsetzung der amtsgerichtlichen Entscheidung legt das Oberlandesgericht nicht nachvollziehbar dar. Es ist nicht erkennbar, worauf das Oberlandesgericht die Annahme einer Kindeswohlgefährdung durch einen ‒ zukünftigen ‒ Wechsel zur Beschwerdeführerin stützt.
Das Amtsgericht hat der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen, gleichzeitig aber der Mutter auferlegt, das Kind nicht unmittelbar in ihren Haushalt aufzunehmen, sondern es zuvor stationär in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie diagnostizieren und behandeln zu lassen. Eine Kindeswohlgefährdung bei Umsetzung dieser Entscheidung ist aufgrund der Begründung des Oberlandesgerichts nicht erkennbar. Das Oberlandesgericht führt insofern lediglich aus, dass eine Kindeswohlgefährdung durch den Wechsel zur Mutter möglich sei und dass diese näher geprüft werden müsse. Es gibt aber in keiner Weise an, welcher Art diese Kindeswohlgefährdung sein kann oder auf welchen Grundlagen diese Annahme beruht. Insbesondere konkretisiert es diese Kindeswohlgefährdung nicht nach ihrer Art, dem Grad der Gefahr und den zu erwartenden Schäden für das Kind. Es benennt keinerlei konkrete Umstände, die auf eine solche Kindeswohlgefährdung hindeuten können. Soweit es darauf abstellt, dass das Kind nunmehr seit drei Jahren seinen Aufenthalt beim Vater hat und zumindest indirekt darauf Bezug nimmt, dass das Kind die Beschwerdeführerin und einen Wechsel zu dieser derzeit ablehnt, nimmt das Oberlandesgericht nicht in den Blick, dass ein solcher unmittelbarer Wechsel vom Amtsgericht gerade ausgeschlossen wurde, indem es auf Anraten der Sachverständigen der Beschwerdeführerin zur Auflage gemacht hat, das Kind kinder- und jugendpsychiatrisch behandeln zu lassen. Diese Behandlung hat notwendigerweise zum Ziel, dass eine Aufnahme in den Haushalt der Mutter ohne Kindeswohlgefährdung möglich ist. Zu einem unmittelbaren Wechsel in den Haushalt der Mutter kommt es somit gerade nicht. Dieser ist erst zu erwarten, wenn die behandelnden Ärzte ihn für mit dem Kindeswohl vereinbar halten. Zu einer möglichen Kindeswohlgefährdung durch die stationäre Aufnahme in eine Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie verhält sich die angegriffene Entscheidung nicht. Eine solche liegt hier auch fern.
Ein Abwarten auf die Hauptsacheentscheidung über die Verfassungsbeschwerde vereitelte den Grundrechtsschutz. Für die Bewertung sind insoweit die Feststellungen des Amtsgerichts zugrunde zu legen, nachdem das Oberlandesgericht keine eigenen Feststellungen getroffen und auch nicht tragfähig begründet hat, dass den Feststellungen des Amtsgerichts nicht zu folgen ist. Demnach lebt das Kind beim Vater in einer kindeswohlgefährdenden Situation, weil es fortlaufend dessen wahnhaften Vorstellungen über die Beschwerdeführerin ausgesetzt ist und von ihm auch in diese Vorstellungswelt einbezogen wird. Um dieser Kindeswohlgefährdung entgegenzuwirken, beabsichtigt die Beschwerdeführerin nach den Angaben im angegriffenen Beschluss eine stationäre Unterbringung des Kindes, die möglicherweise im August oder September 2021 erfolgen sollte. Ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache würde die Umsetzung dieser Maßnahme noch für die Dauer der erforderlichen Anhörungen und bis zum Erlass der Entscheidung verzögern. Dabei ist damit zu rechnen, dass die Umsetzung der stationären Unterbringung nicht unmittelbar nach Erlass der Hauptsacheentscheidung möglich sein wird, sondern dass die Beschwerdeführerin dann erneut zunächst vorbereitende Absprachen treffen muss und dass ein Platz für die stationäre Behandlung erst nach einer ungewissen Wartezeit zur Verfügung steht. Bis dahin verbliebe das Kind im Haushalt des Vaters und wäre den festgestellten Beeinflussungen weiterhin ausgesetzt. In dieser Zeit wäre mit einer weiteren Entfremdung des Kindes von der Mutter und der Verfestigung der Ablehnungshaltung des Kindes gegenüber der Beschwerdeführerin zu rechnen, durch die jedenfalls eine Erschwerung der beabsichtigten Therapie zu erwarten ist.