Das Gericht der Europäischen Union hat zu den Aktenzeichen T-352/15 und T-740/17 die Beschlüsse der Kommission für nichtig erklärt, mit denen diese festgestellt hat, dass einem Schiedsspruch, mit dem ein vorgeblich ermäßigter Stromtarif festgesetzt wurde, dem Aluminiumhersteller Mytilinaios keinen Vorteil gewähre.
Aus der Pressemitteilung des EuG Nr. 161/2021 vom 22.09.2021 ergibt sich:
Die Kommission war verpflichtet, unter Vornahme komplexer wirtschaftlicher oder technischer Beurteilungen sorgfältig, hinreichend und umfassend zu untersuchen, ob eine staatliche Beihilfe vorliegt
Die Dimosia Epicheirisi Ilektrismou AE (im Folgenden: DEI), ein in Athen (Griechenland) ansässiger und vom griechischen Staat kontrollierter Stromerzeuger und -lieferant, und ihr größter Kunde, die Mytilinaios AE – Omilos Epicheiriseon, vormals Alouminion tis Ellados VEAE, mit Sitz in Marousi (Griechenland) (im Folgenden: Mytilinaios), führen einen langjährigen Streit über den Stromlieferungstarif, der den Vorzugstarif ersetzen sollte, der Mytilinaios aufgrund eines 1960 unterzeichneten und 2006 ausgelaufenen Vertrags gewährt worden war.
Im Rahmen einer am 16. November 2011 unterzeichneten Schiedsvereinbarung kamen die beiden Parteien überein, zur Schlichtung ihres Streits die Rythmistiki Archi Energeias (Energieregulierungsbehörde, Griechenland, im Folgenden: RAE) anzurufen, bei der nach griechischem Recht ein ständiges Schiedsgericht (im Folgenden: Schiedsgericht) eingesetzt ist.
Mit Entscheidung vom 31. Oktober 2013 (im Folgenden: Schiedsspruch) setzte das Schiedsgericht den für Mytilinaios geltenden Stromtarif (im Folgenden: fraglicher Tarif) fest. Der gegen diesen Schiedsspruch erhobene Rechtsbehelf wurde vom Efeteio Athinon (Berufungsgericht Athen, Griechenland) zurückgewiesen.
In diesem Zusammenhang legte DEI zwei Beschwerden bei der Kommission ein, mit denen sie geltend machte, dass zunächst die RAE und dann das Schiedsgericht Mytilinaios eine rechtswidrige staatliche Beihilfe gewährt hätten, da der fragliche Tarif sie dazu zwinge, Mytilinaios Strom zu einem unter dem Selbstkostenpreis und damit dem Marktpreis liegenden Preis zu liefern. Mit Schreiben vom 12. Juni 2014, das von einem Referatsleiter in der Generaldirektion (GD) Wettbewerb unterzeichnet war (im Folgenden: streitiges Schreiben), teilte die Kommission DEI mit, dass ihre Beschwerden nicht weiterverfolgt würden. Der fragliche Tarif stelle keine staatliche Beihilfe dar, da die Kriterien der Zurechenbarkeit und des Vorteils nicht erfüllt seien. Daher sei kein förmliches Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV zu eröffnen.
Daraufhin erhob DEI eine Klage beim Gericht (T-639/14) auf Nichtigerklärung der in dem Schreiben enthaltenen Entscheidung, die Beschwerden nicht weiterzuverfolgen.
Im Lauf des Verfahrens vor dem Gericht zog die Kommission mit Beschluss vom 25. März 2015 (Beschluss C(2015) 1942 final vom 25. März 2015 (Sache SA.38101 [2015/NN] [ex 2013/CP] – Griechenland – Behauptete staatliche Beihilfe zugunsten der Alouminion AE nach einem Schiedsspruch in Form von unter den Kosten liegenden Stromtarifen – im Folgenden: erster angefochtener Beschluss) das streitige Schreiben zurück und ersetzte es. In diesem Beschluss stellte sie fest, dass mit dem Schiedsspruch Mytilinaios keine staatliche Beihilfe gewährt worden sei, und zwar im Wesentlichen mit der Begründung, dass DEI ihren Streit freiwillig dem Schiedsgericht vorgelegt habe, was dem Verhalten eines umsichtigen marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgebers entspreche und damit keinen Vorteil beinhalte.
DEI erhob daraufhin eine Klage beim Gericht (T-352/15) auf Nichtigerklärung des ersten angefochtenen Beschlusses.
Mit Beschluss vom 9. Februar 2016 stellte das Gericht fest, dass der Rechtsstreit im Verfahren T-639/14 in der Hauptsache erledigt sei. Mit einem Rechtsmittel befasst, hob der Gerichtshof (Urteil vom 31. Mai 2017, DEI/Kommission – C-228/16 P) diesen Beschluss jedoch auf und verwies die Rechtssache an das Gericht zurück (T-639/14 RENV).
Am 14. August 2017 erließ die Kommission einen zweiten Beschluss (Beschluss C(2017) 5622 final vom 14. August 2017 – Sache SA.38101 [2015/NN] [ex 2013/CP] – Griechenland – Behauptete staatliche Beihilfe zugunsten der Alouminion AE nach einem Schiedsspruch in Form von unter den Kosten liegenden Stromtarifen – im Folgenden: zweiter angefochtener Beschluss), mit dem sie sowohl das streitige Schreiben als auch den ersten angefochtenen Beschluss aufhob und ersetzte. Unter Berufung auf dieselben Gründe wie den im ersten angefochtenen Beschluss angeführten bestätigt die Kommission in diesem zweiten Beschluss, dass mit dem Schiedsspruch keine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV gewährt worden sei.
DEI erhob beim Gericht auch Klage auf Nichtigerklärung dieses zweiten Beschlusses (T-740/17).
Nach Verbindung der drei anhängigen Rechtssachen hat die erweiterte Dritte Kammer des Gerichts den drei von DEI erhobenen Klagen stattgegeben und sowohl das streitige Schreiben als auch den ersten und den zweiten angefochtenen Beschluss (im Folgenden zusammen: angefochtene Rechtsakte) für nichtig erklärt. In seinem Urteil nimmt das Gericht Klarstellungen zur Einstufung eines Beschwerdeführers als „Beteiligten“ vor, der einen beihilferechtlichen Beschluss der Kommission, keine Einwände gegen eine staatliche Maßnahme zu erheben, anzufechten berechtigt ist. In der Sache wird im Urteil präzisiert, welchen Umfang die der Kommission obliegende Verpflichtung hat, zu prüfen, ob ein Schiedsgericht, das über Befugnisse verfügt, die mit denen eines ordentlichen staatlichen Gerichts vergleichbar sind, einen Vorteil im beihilferechtlichen Sinne gewährt hat, indem es einen Stromliefertarif festgesetzt hat, der gegebenenfalls nicht dem Marktpreis entspricht.
Würdigung durch das Gericht
Zur Zulässigkeit der Klage in der Rechtssache T-740/17, die das Gericht als Erstes prüft, führt es aus, dass der zweite angefochtene Beschluss verbindliche Rechtswirkungen gegenüber DEI hat. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs entfaltet der das Nichtvorliegen einer Beihilfe feststellende Beschluss, mit dem die Kommission die Vorprüfungsphase abschließt, verbindliche Rechtswirkungen nämlich auch gegenüber einem Beteiligten. Insoweit weist das Gericht darauf hin, dass DEI, da sie geltend gemacht hat, dass der fragliche Tarif eine nach Art. 107 Abs. 1 AEUV verbotene Beihilfe darstelle, die ihre wirtschaftlichen Interessen beeinträchtige, den Status eines „Beteiligten“ im Sinne von Art. 108 Abs. 2 AEUV und Art. 1 Buchst. h der Verordnung über die Anwendung von Art. 108 AEUV (Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2015, L 248, S. 9) besitzt, der sich durch die angefochtenen Rechtsakte, mit denen die Beschwerdeverfahren eingestellt wurden, daran gehindert sehe, seine Stellungnahmen in einem förmlichen Prüfverfahren abzugeben.
Daher ist die Klage von DEI zulässig, soweit sie auf die Wahrung der Garantien gerichtet ist, die ihr als Beteiligter im Fall der Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens nach Art. 108 Abs. 2 AEUV zustehen. Das Gericht führt in diesem Zusammenhang aus, dass DEI mit ihren Nichtigkeitsgründen geltend gemacht hat, dass Anlass zu Bedenken im Sinne von Art. 4 Abs. 3 und 4 der Verordnung über die Anwendung von Art. 108 AEUV oder ernsthafte Schwierigkeiten bestanden hätten, die die Kommission dazu hätten veranlassen müssen, das förmliche Prüfverfahren zu eröffnen.
Was die materiell-rechtliche Frage betrifft, ob die Prüfung der von DEI eingelegten Beschwerden durch die Kommission Bedenken oder ernsthafte Schwierigkeiten hätte aufwerfen müssen, weist das Gericht das Vorbringen der Kommission zurück, wonach sich ein umsichtiger privater Kapitalgeber, der sich in der Lage von DEI befunden hätte, für ein Schiedsverfahren entschieden und die Festsetzung des geltenden Tarifs durch ein Schiedsgericht, das mit Sachverständigen besetzt sei, deren Wertungsspielraum durch Parameter beschränkt sei, die den in der Schiedsvereinbarung enthaltenen vergleichbar seien, akzeptiert hätte, so dass die Festsetzung des fraglichen Tarifs durch das Schiedsgericht nicht bewirken könne, dass Mytilinaios ein Vorteil gewährt werde.
Insoweit bestätigt das Gericht, dass das Schiedsgericht, das in einem gesetzlich vorgesehenen Schiedsverfahren entscheidet und mit einer rechtsverbindlichen Entscheidung einen Stromtarif festsetzt, in Anbetracht seiner Natur, des Kontexts, in dem es seine Tätigkeit ausübt, seines Zwecks und den für es geltenden Regeln, nach denen seine Entscheidungen vor den staatlichen Gerichten anfechtbar sind, in Rechtskraft erwachsen und vollstreckbare Titel sind, als ein Organ einzustufen ist, das Befugnisse ausübt, die der hoheitlichen Gewalt zuzurechnen sind. Das Schiedsgericht kann daher mit einem ordentlichen staatlichen Gericht gleichgesetzt werden.
Hinsichtlich der Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den nationalen Gerichten und der Kommission auf dem Gebiet der beihilferechtlichen Kontrolle kann es allerdings sein, dass die nationalen Gerichte selbst die ihnen nach Art. 107 Abs. 1 und Art. 108 Abs. 3 AEUV obliegenden Pflichten missachten und damit die Gewährung einer rechtswidrigen Beihilfe ermöglichen oder aufrechterhalten oder sogar zu einem Instrument zu diesem Zweck werden, was unter die Kontrollbefugnis der Kommission fällt.
Die Kommission musste daher, um alle Bedenken oder ernsthafte Schwierigkeiten hinsichtlich der Frage, ob der mit dem Schiedsspruch festgesetzte fragliche Tarif einen Vorteil im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV beinhaltete, ausräumen zu können, überprüfen, ob eine nicht angemeldete, aber von einem Beschwerdeführer beanstandete staatliche Maßnahme wie dieser Tarif die Tatbestandsmerkmale einer staatlichen Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV, einschließlich des Vorliegens eines Vorteils, erfüllt. Diese Kontrolle erfordert komplexe wirtschaftliche Beurteilungen insbesondere bezüglich der Frage, ob dieser Tarif den normalen Marktbedingungen entspricht.
Durch die Beschränkung ihrer Analyse auf die Frage, ob sich ein privater Kapitalgeber für das von DEI akzeptierte Schiedsverfahren entschieden hätte, hat die Kommission diese komplexen wirtschaftlichen Beurteilungen jedoch unter Missachtung ihrer eigenen Kontrollpflicht an die griechischen Stellen übertragen. Sie hätte ferner unter Berücksichtigung der von DEI im Verwaltungsverfahren übermittelten Angaben selbst die Frage prüfen müssen, ob die vom Schiedsgericht angewandte Methode zur Ermittlung der Kosten von DEI geeignet und hinreichend plausibel war, um festzustellen, dass der fragliche Tarif den normalen Marktbedingungen entspricht.
Da die Kommission im zweiten angefochtenen Beschluss nicht den ihr obliegenden Kontrollpflichten nicht nachgekommen ist, vertritt das Gericht die Auffassung, dass sie hätte feststellen müssen, dass ernsthafte Schwierigkeiten bestünden oder es Anlass zu Bedenken gebe, die die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens erforderten. Das Gericht gibt daher der Klage in der Rechtssache T-740/17 statt und erklärt den zweiten angefochtenen Beschluss für nichtig.
Da der zweite angefochtene Beschluss für nichtig erklärt ist, kann er weder den ersten angefochtenen Beschluss noch das streitige Schreiben aufheben und ersetzen. Die Klage auf Nichtigerklärung des ersten angefochtenen Beschlusses ist demnach nicht gegenstandslos geworden.
In Anbetracht des nahezu identischen Inhalts des ersten und des zweiten angefochtenen Beschlusses gibt das Gericht aus den gleichen Gründen der Klage in der Rechtssache T-352/15 statt und erklärt auch den ersten angefochtenen Beschluss für nichtig, der damit nicht mehr das streitige Schreiben aufheben und ersetzen kann, so dass auch die Klage in der Rechtssache T-639/14 RENV nicht gegenstandslos geworden ist.
Nachdem das Gericht diese Klage für zulässig erklärt hat, stellt es fest, dass das streitige Schreiben, das die endgültige Stellungnahme der Kommissionsdienststellen zu den Beschwerden von DEI in Form einer Einstellungsentscheidung enthält, einen Formfehler aufweist, da diese von der Kommission als Kollegialorgan – statt von einem Referatsleiter in der GD Wettbewerb – hätte erlassen werden müssen. Deshalb hatte die Kommission selbst dieses Schreiben aufgehoben und ersetzt. Das Gericht bestätigt außerdem, dass die Kommission ernsthafte Schwierigkeiten oder Bedenken hinsichtlich des Vorliegens einer staatlichen Beihilfe hätte feststellen müssen oder sie zumindest nicht mit der Begründung hätte verneinen dürfen, dass der Schiedsspruch nicht dem griechischen Staat zuzurechnen sei. Da der Schiedsspruch nämlich nach Wesen und Rechtswirkungen Urteilen eines ordentlichen griechischen Gerichts vergleichbar und daher als ein Hoheitsakt einzustufen sei, hat DEI diese Zurechenbarkeit nach Auffassung des Gerichts rechtlich hinreichend nachgewiesen.
Das Gericht gibt damit der dritten Klage statt und erklärt auch das streitige Schreiben für nichtig.