Der Europäische Gerichtshof hat am 09.09.2021 zum Aktenzeichen C-18/20 entschieden, dass eine Regelung, die vorsieht, dass ein Folgeantrag auf internationalen Schutz allein deshalb als unzulässig zurückgewiesen wird, weil er auf Umstände gestützt ist, die bereits zur Zeit des Verfahrens über den ersten Antrag existierten, gegen das Unionsrecht verstößt. Außerdem darf die Wiederaufnahme des ersten Verfahrens, um den Folgeantrag in der Sache zu prüfen, nicht davon abhängig gemacht werden, dass dieser Antrag binnen einer bestimmten Frist gestellt wurde.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 155/2021 vom 09.09.2021 ergibt sich:
Ein irakischer Staatsangehöriger, dessen erster Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich) rechtskräftig abgewiesen wurde, stellte einige Monate später bei dieser Behörde einen Folgeantrag auf internationalen Schutz. Während er seinen ersten Antrag darauf gestützt hatte, dass er bei einer Rückkehr in den Irak um sein Leben bangen müsste, weil er sich geweigert habe, für schiitische Milizen zu kämpfen (wobei er selbst muslimisch-schiitischen Glaubens ist), und sich das Land immer noch im Krieg befinde, machte er nun geltend, dass der wahre Grund für seine Anträge in seiner Homosexualität liege, die in seinem Land und in seiner Religion verboten sei. Er erläuterte, dass er zum Zeitpunkt des ersten Antrags noch nicht gewusst habe, dass er in Österreich nichts zu befürchten habe, wenn er sich zu seiner Homosexualität bekenne.
Das Bundesamt wies diesen Folgeantrag als unzulässig zurück, weil er darauf gerichtet sei, einen früheren abschlägigen Bescheid in Frage zu stellen, der rechtskräftig geworden sei. Denn nach österreichischem Recht könne ein Folgeantrag, der auf Elemente oder Erkenntnisse gestützt werde, die bereits vor Erlass des das frühere Verfahren rechtskräftig abschließenden Bescheids existiert hätten, nur zur Wiederaufnahme dieses Verfahrens führen, und dies auch nur dann, wenn der Antragsteller diese Elemente oder Erkenntnisse im früheren Verfahren ohne sein Verschulden nicht geltend gemacht habe. Nur Elemente oder Erkenntnisse, die nach Erlass des rechtskräftigen ersten Bescheids neu entstanden seien, könnten die Eröffnung eines neuen Verfahrens rechtfertigen. Da der Antragsteller die Auffassung vertrat, dass sein Folgeantrag zur Eröffnung eines neuen Verfahrens hätte führen müssen, wandte er sich an die österreichischen Gerichte.
Vor diesem Hintergrund hat der Verwaltungsgerichtshof (Österreich) den Gerichtshof um Auslegung der Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, 60) ersucht.
In seinem Urteil vom 09.09.2021 stellt der Gerichtshof fest, dass die Prüfung eines auf Elemente oder Tatsachen, die bereits vor dem rechtskräftigen Abschluss des ersten Verfahrens existierten, gestützten Folgeantrags auf internationalen Schutz in der Sache grundsätzlich im Rahmen der Wiederaufnahme des Verfahrens über den ersten Antrag vorgenommen werden kann, sofern die in der Richtlinie vorgesehenen Grundsätze und Garantien eingehalten werden.
Eine solche Wiederaufnahme kann – wie in Österreich – davon abhängig gemacht werden, dass (i) diese neuen Elemente oder Erkenntnisse erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, und (ii) der Antragsteller ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage war, diese neuen Elemente oder Erkenntnisse im früheren Verfahren vorzubringen. Dagegen darf eine solche Wiederaufnahme nicht – wie nach österreichischem Recht1 – davon abhängig gemacht werden, dass der Folgeantrag binnen einer bestimmten Frist gestellt wurde.
Für den Fall, dass die auf die Wiederaufnahme des Verfahrens anwendbaren österreichischen Rechtsvorschriften nicht gewährleisten, dass die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Folgeantrags erfüllt sind, oder nicht mit den in der Richtlinie vorgesehenen Grundsätzen und Garantien vereinbar sind, weist der Gerichtshof außerdem darauf hin, dass der Folgeantrag des Antragstellers vorliegend im Rahmen eines neuen Verwaltungsverfahrens geprüft werden müsste.
Da Österreich für solche neuen Verfahren die fakultative Richtlinienbestimmung, nach der die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass der Folgeantrag nur geprüft wird, wenn der Antragsteller ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage war, die neuen Elemente oder Erkenntnisse im früheren Verfahren vorzubringen, obwohl sie bereits existierten, nicht umgesetzt hat, kann die Eröffnung eines neuen Verfahrens nicht mit der Begründung abgelehnt werden, den Antragsteller treffe ein Verschulden.
1 Demnach ist der Folgeantrag binnen einer Frist von zwei Wochen, die im Wesentlichen mit dem Zeitpunkt beginnt, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, jedenfalls aber binnen drei Jahren nach Erlassung des Bescheids über den früheren Antrag einzubringen.