Generalanwalt Bobek schlägt vor dem Europäischen Gerichtshof im Verfahren C-117/20 und C-151/20 eine einheitliche Prüfung für den Schutz gegen Doppelbestrafung (ne bis in idem) nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vor; diese Prüfung soll auf einer dreifachen Identität beruhen, nämlich des Zuwiderhandelnden, des einschlägigen Sachverhalts und des geschützten Rechtsguts.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 153/2021 vom 02.09.2021 ergibt sich:
Der belgische Cour d’appel de Bruxelles (Berufungshof Brüssel, Belgien) und ein österreichisches Gericht (Oberster Gerichtshof), bei denen wettbewerbsrechtliche Verfahren anhängig sind, bitten den Gerichtshof um Hinweise zum Schutz gegen Doppelbestrafung (Grundsatz ne bis in idem) nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 50 der Charta).
Das Unternehmen bpost, der etablierte Postdiensteanbieter in Belgien, wurde von zwei belgischen Behörden in aufeinanderfolgenden Verfahren mit Geldbußen belegt. Im ersten Verfahren verhängte die nationale Regulierungsbehörde für den Postsektor gegen bpost eine Geldbuße von 2,3 Millionen Euro, weil sie der Auffassung war, das von bpost im Jahr 2010 angewandte Nachlasssystem diskriminiere einige der Kunden von bpost1. Diese Entscheidung wurde von dem belgischen Gericht später im Anschluss an ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof2 für nichtig erklärt, da der Tatbestand einer Diskriminierung im Sinne der Rechtsvorschriften für den Postsektor nicht erfüllt war. Im zweiten Verfahren wurde bpost dann im Hinblick auf die von Januar 2010 bis Juli 2011 erfolgte Anwendung desselben Nachlasssystems von der nationalen Wettbewerbsbehörde wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung mit einer Geldbuße von nahezu 37,4 Millionen Euro belegt. bpost hält dieses zweite Verfahren für nicht rechtmäßig und beruft sich auf den Grundsatz ne bis in idem.
Bei dem österreichischen Gericht ist ein Verfahren anhängig, in dem die österreichische Wettbewerbsbehörde (Bundeswettbewerbsbehörde) die Feststellung eines Verstoßes von Nordzucker und Südzucker, zweier deutscher Zuckerhersteller, gegen das unionsrechtliche Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen3 und das österreichische Wettbewerbsrecht begehrt. In Bezug auf Südzucker begehrt sie auch die Verhängung einer Geldbuße. Zuvor hatte die deutsche Wettbewerbsbehörde (Bundeskartellamt) eine Zuwiderhandlung dieser beiden Unternehmen gegen Art. 101 AEUV und das deutsche Wettbewerbsrecht festgestellt und gegen Südzucker eine Geldbuße von 195,5 Millionen Euro festgesetzt. In diesem Zusammenhang stellen sich einige Fragen zum Grundsatz ne bis in idem.
In den Schlussanträgen vom 02.09.2021 vertritt Generalanwalt Michal Bobek die Auffassung, dass Art. 50 der Charta, in dem der Grundsatz ne bis in idem verankert ist, unabhängig davon, auf welchem Gebiet des Unionsrechts er angewandt werde, den gleichen Inhalt haben müsse, sofern nicht eine besondere Bestimmung des Unionsrechts ausdrücklich ein höheres Schutzniveau gewährleiste.
Er hebt auch hervor, dass der Zweck des Grundsatzes ne bis in idem gerade darin bestehe, Beteiligte vor dem zweiten Verfahren zu schützen. Dies stelle ein Verbot dar. Seien dessen Voraussetzungen erfüllt, dürften weitere Verfahren gar nicht erst eingeleitet werden. Ein solches Verbot müsse im Voraus gesetzlich festgelegt sein. Es könne nicht von den besonderen Umständen eines bestimmten (nachfolgenden) Verfahrens abhängig sein.
Hierzu schlägt er eine einheitliche Prüfung von ne bis in idem nach Art. 50 der Charta vor, die an die Stelle des nach seiner Auffassung derzeit bestehenden zersplitterten und zum Teil widersprüchlichen Mosaiks4 treten solle. Die einheitliche Prüfung solle auf einer dreifachen Identität beruhen, nämlich des Zuwiderhandelnden, des einschlägigen Sachverhalts und des geschützten Rechtsguts.
In Bezug auf bpost schlägt Generalanwalt Bobek vor, dem belgischen Gericht zu antworten, dass der in der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem die zuständige Verwaltungsbehörde eines Mitgliedstaats nicht daran hindert, eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen das europäische und nationale Wettbewerbsrecht zu verhängen, wenn dieselbe Person in einem früheren Verfahren, das von der nationalen Regulierungsbehörde für den Postsektor wegen des Vorwurfs eines Verstoßes gegen das Postrecht durchgeführt wurde, bereits rechtskräftig freigesprochen wurde, wobei dies grundsätzlich voraussetzt, dass sich das spätere Verfahren hinsichtlich entweder der Person des Zuwiderhandelnden oder des einschlägigen Sachverhalts oder des geschützten Rechtsguts, das durch die im jeweiligen Verfahren in Rede stehenden Legislativakte gewahrt werden soll, unterscheidet.
Nach Ansicht des Generalanwalts scheint es, vorbehaltlich der Überprüfung durch das belgische Gericht, dass die beiden nacheinander im Rahmen des sektorspezifischen und des wettbewerbsrechtlichen Verfahrens verfolgten Zuwiderhandlungen jeweils mit dem Schutz unterschiedlicher Rechtsgüter und mit unterschiedliche Zwecke verfolgenden Rechtsvorschriften verbunden sind.
Was erstens das geschützte Rechtsgut angehe, folge die Liberalisierung bestimmter, zuvor monopolistischer Märkte einer anderen Logik als der laufende Schutz des Wettbewerbs auf horizontaler Ebene. Zweitens sei dies auch im Hinblick auf die unerwünschten Folgen offenkundig, denen durch die Ahndung jeder dieser Zuwiderhandlungen entgegengewirkt werden solle. Wenn das Ziel die Liberalisierung eines Sektors sei, dann sei die potenzielle Beeinträchtigung des vor- oder nachgelagerten Wettbewerbs nicht notwendigerweise ein im Rahmen der Regulierung anzugehendes Problem. Die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung, die die Verzerrung des vor- oder nachgelagerten Wettbewerbs zur Folge habe, sei dagegen sehr wohl Gegenstand der Wettbewerbsvorschriften.
In der Rechtssache Nordzucker u. a. bestätigt der Generalanwalt, dass die auf den Grundsatz ne bis in idem anzuwendende einheitliche Prüfung auch im besonderen Bereich des Wettbewerbsrechts Anwendung finden solle.
Ob das Wettbewerbsrecht der Union und das nationale Wettbewerbsrecht dasselbe Rechtsgut schützen, ist nach Ansicht des Generalanwalts durch Prüfung der konkreten angewendeten Regelungen zu klären. Insoweit sei auch zu prüfen, ob die betreffenden nationalen Regelungen von denjenigen des Unionsrechts abweichen. Wendeten die Wettbewerbsbehörden zweier Mitgliedstaaten Art. 101 AEUV und die entsprechende Bestimmung des nationalen Wettbewerbsrechts an, schützten sie dasselbe Rechtsgut.
Des Weiteren sei der Umstand, dass eine nationale Wettbewerbsbehörde extraterritoriale Auswirkungen eines bestimmten wettbewerbswidrigen Verhaltens in einer früheren Entscheidung berücksichtigt habe, sofern sie hierzu nach nationalem Recht berechtigt gewesen sei, für die Prüfung der Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem im Rahmen des später durchgeführten Verfahrens relevant. Es sei einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder einem Gericht durch den in der Charta verankerten Grundsatz ne bis in idem verwehrt, ein wettbewerbswidriges Verhalten zu ahnden, das bereits Gegenstand eines früheren, durch eine rechtskräftige Entscheidung einer anderen nationalen Wettbewerbsbehörde abgeschlossenen Verfahrens gewesen sei. Dieses Verbot gelte jedoch nur insoweit, als der zeitliche und geografische Umfang des Gegenstands beider Verfahren derselbe sei.
Im Wesentlichen gelte der in der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem auch im Rahmen eines nationalen Verfahrens, in dem es zur Anwendung der Kronzeugenregelung komme und in dem keine Geldbuße verhängt werde.