Der Europäische Gerichtshof hat am 02.09.2021 zum Aktenzeichen C-932/19 entschieden, dass ungarische Rechtsvorschriften, die es verbieten, ein Fremdwährungsdarlehen aufgrund einer missbräuchlichen Klausel über die Wechselkursdifferenz für nichtig zu erklären, offenbar mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Dies ist dann der Fall, wenn diese Rechtsvorschriften es ermöglichen, die Sach- und Rechtslage wiederherzustellen, in der sich der Verbraucher ohne die missbräuchliche Klausel befunden hätte, auch wenn die Nichtigerklärung des Vertrags für ihn vorteilhafter wäre.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 144/2021 vom 02.09.2021 ergibt sich:
Ein Verbraucher schloss im Jahr 2007 mit ungarischen Banken der OTP-Gruppe Darlehensverträge, die auf eine Fremdwährung lauteten. Im Rahmen von Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit diesen Verträgen machte der Verbraucher deren Nichtigkeit geltend und berief sich auf die Missbräuchlichkeit der Klauseln, nach denen sich der Wechselkurs bei Auszahlung der Darlehen (Ankaufskurs der Fremdwährung gegenüber dem ungarischen Forint [HUF]) von dem bei ihrer Tilgung (Verkaufskurs der Fremdwährung) unterschied.
Das Győri Ítélőtábla (Tafelgericht Győr, Ungarn) führte als Berufungsinstanz zum einen aus, dass der ungarische Gesetzgeber solche missbräuchlichen Klauseln durch eine nationale Bestimmung ersetzt hat, nach der sowohl für die Auszahlung als auch für die Tilgung der offizielle, von derungarischen Nationalbank festgelegte Wechselkurs gilt. Zum anderen habe es nach ungarischem Recht nicht die Möglichkeit, die Verträge aufgrund der Ungültigkeit der missbräuchlichen Klauseln für nichtig zu erklären, obwohl diese Lösung für den Verbraucher vorteilhafter wäre, der dann nicht mehr das Wechselkursrisiko trüge. Da es Zweifel daran hatte, ob die vom ungarischen Gesetzgeber vorgegebene Lösung der Entfernung der missbräuchlichen Klauseln über die Wechselkursdifferenz aus Verträgen über Fremdwährungsdarlehen mit der Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (Klauselrichtlinie – ABl. 1993, L 95, S. 29) vereinbar ist, befragte das Győri Ítélőtábla hierzu den Gerichtshof.
In seinem Urteil vom 02.09.2021 weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Lösung des ungarischen Gesetzgebers dem Ziel der Richtlinie entspricht, nämlich die Ausgewogenheit zwischen den Parteien wiederherzustellen und dabei grundsätzlich die Wirksamkeit eines Vertrags in seiner Gesamtheit aufrechtzuerhalten, nicht aber sämtliche Verträge für nichtig zu erklären, die missbräuchliche Klauseln − etwa über die Wechselkursdifferenz − enthalten, die ihrer Durchführung entgegenstehen. Außerdem steht die Richtlinie einer nationalen Regelung nicht entgegen, die das befasste Gericht hindert, einem Antrag auf Nichtigerklärung eines Darlehensvertrags wegen Missbräuchlichkeit einer Klausel über die Wechselkursdifferenz stattzugeben, sofern sichergestellt ist, dass diese Klausel den Verbraucher nicht bindet. So muss die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel es ermöglichen, die Sach- und Rechtslage wiederherzustellen, in der sich der Verbraucher ohne die missbräuchliche Klausel befunden hätte, insbesondere durch Begründung eines Anspruchs auf Rückgewähr der Vorteile, die der Gewerbetreibende aufgrund der missbräuchlichen Klausel zulasten des Verbrauchers rechtsgrundlos erlangt hat.
In diesem Zusammenhang ist es Sache des ungarischen Gerichts, zu prüfen, ob die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften es tatsächlich ermöglichen, die Sach- und Rechtslage des Verbrauchers wiederherzustellen.
Der Gerichtshof verneint die Frage, ob es möglich oder sogar erforderlich sei, dass das nationale Gericht dem Antrag des betroffenen Verbrauchers stattgibt, den in Rede stehenden Darlehensvertrag vollständig für nichtig zu erklären, statt nur die Klausel über die Wechselkursdifferenz aufzuheben und durch eine nationale Bestimmung zu ersetzen. Die Klauselrichtlinie ermöglicht es dem angerufenen Gericht nämlich nicht, sich ausschließlich auf die etwaige Vorteilhaftigkeit der Nichtigerklärung des gesamten in Rede stehenden Vertrags für den Verbraucher zu stützen. Grundsätzlich ist anhand der im nationalen Recht vorgesehenen Kriterien zu prüfen, ob in einem konkreten Fall ein Vertrag aufrechterhalten werden kann, wenn einige seiner Klauseln für unwirksam erklärt wurden.
Nach dem vom Gerichtshof in seiner einschlägigen Rechtsprechung verfolgten objektiven Ansatz ist es nicht zulässig, im nationalen Recht die Lage einer der Vertragsparteien als das maßgebende Kriterium anzusehen, das über das weitere Schicksal des Vertrags entscheidet. Folglich kann der vom betroffenen Verbraucher zum Ausdruck gebrachte Wille keinen Vorrang haben für die Beurteilung des nationalen Gerichts, ob die ungarischen Rechtsvorschriften es ermöglichen, die Sach- und Rechtslage des Verbrauchers wiederherzustellen.
Daher stellt der Gerichtshof fest, dass die ungarischen Rechtsvorschriften mit der Klauselrichtlinie vereinbar sind, soweit sie dies ermöglichen.