Erdgas- und Stromrichtlinie: Keine ordnungsgemäße Umsetzung ins deutsche Recht

02. September 2021 -

Der Europäische Gerichtshof hat am 02.09.2021 zum Aktenzeichen C-718/18 der Vertragsverletzungsklage gegen Deutschland wegen nicht ordnungsgemäßer Umsetzung der Elektrizitätsrichtlinie 2009/72 und der Erdgasrichtlinie 2009/73 stattgegeben.

Aus der Pressemitteilung des EuGH vom 02.09.2021 ergibt sich:

Die Richtlinien 2009/721 und 2009/732 zielen darauf ab, allen Verbrauchern in der Europäischen Union in den Binnenmärkten für Elektrizität und Erdgas eine Wahlfreiheit zu bieten. Um Diskriminierungen zu vermeiden, wurde in den Richtlinien eine wirksame Trennung des Betriebs von Übertragungs- bzw. Fernleitungsnetzen von den Tätigkeiten der Erzeugung und Versorgung („wirksame Entflechtung“) vorgeschrieben. Die Einhaltung der Richtlinienbestimmungen wird durch die Einrichtung nationaler Regulierungsbehörden (im Folgenden: NRB) gewährleistet, die unabhängig, unparteiisch und transparent agieren3.

Mit seinem Urteil vom 02.09.2021 hat der Gerichtshof der von der EU-Kommission gegen Deutschland erhobenen Vertragsverletzungsklage in vollem Umfang stattgegeben. Die vier von der Kommission zur Stützung ihrer Klage erhobenen Rügen gingen jeweils dahin, dass Deutschland die Richtlinien 2009/72 und 2009/73 im Energiewirtschaftsgesetz4 nicht ordnungsgemäß umgesetzt habe.

Der Gerichtshof hat der ersten Rüge stattgegeben, mit der die Kommission Deutschland vorgeworfen hatte, es habe den Begriff „vertikal integriertes Unternehmen“ (im Folgenden: VIU) nicht ordnungsgemäß umgesetzt, indem es diesen Begriff auf in der Union tätige Unternehmen beschränkt habe5. Er hat hervorgehoben, dass der Begriff „VIU“ einen autonomen Begriff des Unionsrechts darstellt, der keine räumliche Beschränkung vorsieht und im Licht des Begriffs der „wirksamen Entflechtung“ auszulegen ist, um die Gefahr einer Diskriminierung in Bezug auf den Netzzugang auszuschließen. Zwischen einem Übertragungs- bzw. Fernleitungsnetzbetreiber (im Folgenden zusammenfassend: Übertragungsnetzbetreiber) in der Union und Erzeugern oder Lieferanten von Elektrizität oder Erdgas, die Tätigkeiten in diesen Bereichen außerhalb der Union ausüben, könnten nämlich Interessenkonflikte bestehen. Die weite Auslegung des Begriffs „VIU“ ermöglicht es, gegebenenfalls Tätigkeiten zu erfassen, die außerhalb des Unionsgebiets ausgeübt werden. Dies impliziert keine Ausdehnung der Regelungsbefugnis der Union. Folglich steht die von Deutschland vorgenommene enge Auslegung des Begriffs „VIU“ nicht im Einklang mit den Zielen der Richtlinienbestimmungen.

In Bezug auf die Unabhängigkeit des Personals und der Unternehmensleitung des Übertragungsnetzbetreibers hat der Gerichtshof der zweiten Rüge stattgegeben, mit der die Kommission gerügt hatte, im deutschen Recht sei die Anwendung der Richtlinienbestimmungen über die im Fall des Funktionswechsels innerhalb des VIU geltenden Karenzzeiten auf diejenigen Teile des VIU beschränkt worden, die ihre Tätigkeiten im Energiebereich ausübten6. Der Gerichtshof hat hervorgehoben, dass die fraglichen Richtlinienbestimmungen keine derartige Beschränkung enthalten und dass eine solche Beschränkung dem Ziel der „wirksamen Entflechtung“ zuwiderliefe, die sich als notwendig erweist, um das Funktionieren des Energiebinnenmarkts und die Sicherheit der Energieversorgung zu gewährleisten. Aus den Richtlinienbestimmungen folgt, dass die „Karenzzeiten“ für die Führungskräfte bzw. Personen der Unternehmensleitung und/oder die Mitglieder der Verwaltungsorgane des Übertragungsnetzbetreibers gelten, die vor ihrer Anstellung eine Tätigkeit innerhalb des VIU oder bei einem Mehrheitsanteilseigner eines der Unternehmen des VIU ausgeübt haben, auch wenn diese Tätigkeiten nicht im Energiesektor des VIU oder bei einem Mehrheitsanteilseigner eines der Unternehmen im Energiesektor des VIU ausgeübt wurden.

Soweit Deutschland auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und das Grundrecht auf freie Berufswahl verwiesen hatte, hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass diese Freiheiten nicht absolut gewährleistet werden, sondern unter bestimmten Voraussetzungen, die im vorliegenden Fall erfüllt sind, eingeschränkt werden können. Der Gerichtshof ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der subjektive Anwendungsbereich der deutschen Regelung nicht mit den maßgeblichen Richtlinienbestimmungen im Einklang steht.

Der Gerichtshof hat ferner der dritten Rüge stattgegeben, mit der die Kommission vorgetragen hatte, dass die Richtlinienbestimmungen, die es verböten, bestimmte Beteiligungen an Unternehmensteilen des VIU zu halten oder bestimmte finanzielle Zuwendungen von diesen zu erhalten, nur begrenzt in deutsches Recht umgesetzt worden seien, ohne für die von Beschäftigten des Übertragungsnetzbetreibers gehaltenen Anteile zu gelten7. Aus dem Wortlaut der Bestimmungen geht nämlich hervor, dass diese Verbote auch für Beschäftigte gelten. Für diese Auslegung sprechen auch das Ziel der „wirksamen Entflechtung“ und die Gefahr, dass Beschäftigte, auch wenn sie nicht an den laufenden unternehmerischen Entscheidungen des Übertragungsnetzbetreibers beteiligt sind, die Tätigkeiten ihres Arbeitgebers beeinflussen können, so dass Interessenkonflikte zu entstehen drohen, wenn diese Beschäftigten Beteiligungen am VIU oder an Teilen des VIU halten. Soweit Deutschland auf das durch Art. 17 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Eigentumsrecht der Beschäftigten verwiesen hatte, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die in den maßgeblichen Bestimmungen statuierten Verbote das Eigentumsrecht nicht in so unverhältnismäßiger und untragbarer Weise beeinträchtigen, dass es in seinem Wesensgehalt angetastet wäre.

Schließlich hat der Gerichtshof der vierten Rüge stattgegeben, mit der die Kommission Deutschland vorgeworfen hatte, es habe die in den Richtlinien vorgesehenen ausschließlichen Zuständigkeiten der NRB verletzt, indem es im deutschen Recht die Bestimmung der Methoden zur Berechnung oder Festlegung der Bedingungen für den Anschluss an und den Zugang zu den nationalen Netzen, einschließlich der anwendbaren Tarife, der Bundesregierung zugewiesen habe8. Der Gerichtshof hat hervorgehoben, dass die völlige Unabhängigkeit der NRB notwendig ist, um zu gewährleisten, dass sie gegenüber Wirtschaftsteilnehmern und öffentlichen Einrichtungen unparteiisch und nicht diskriminierend handeln. Ferner hat er darauf hingewiesen, dass die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie unter Beachtung der in den Richtlinien festgelegten Ziele und Pflichten auszuüben ist. Insbesondere sind die Tarife und Berechnungsmethoden für den inländischen und den grenzüberschreitenden Handel auf der Grundlage einheitlicher Kriterien festzulegen, wie sie in den Richtlinien vorgesehen und in weiteren Rechtsetzungsakten der Union vorgegeben sind.

In Erwiderung auf das Argument Deutschlands, § 24 des Energiewirtschaftsgesetzes sei gesetzgeberischer Natur, hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass die Arbeitsweise der Union auf dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie beruht und auch Richtlinien im Gesetzgebungsverfahren erlassen werden. Ferner hat der Gerichtshof festgestellt, dass das Demokratieprinzip dem nicht entgegensteht, dass es außerhalb des klassischen hierarchischen Verwaltungsaufbaus angesiedelte, von der Regierung mehr oder weniger unabhängige öffentliche Stellen gibt. Der Umstand, dass den NRB eine unabhängige Stellung zukommt, ist für sich allein noch nicht geeignet, diesen Behörden die demokratische Legitimation zu nehmen, sofern sie nicht jeder parlamentarischen Einflussmöglichkeit entzogen sind9.

Der Gerichtshof hat betont, dass die den NRB vorbehaltenen Zuständigkeiten in den Bereich der Durchführung – und zwar auf der Grundlage einer technisch-fachlichen Beurteilung – fallen und diesen Behörden keinen Wertungsspielraum einräumen, der zu Entscheidungen politischer Art führen könnte. Im vorliegenden Fall unterliegen die NRB Grundsätzen und Regeln, die durch einen detaillierten normativen Rahmen auf Unionsebene festgelegt werden.