Das Bundesverwaltungsgericht hat am 17.08.2021 zum Aktenzeichen 1 C 26.20, 1 C 38.20, 1 C 51.20, 1 C 55.20, 1 C 1.21 entschieden, dass wenn ein Asylantragsteller eine Aufforderung nicht befolgt, sich zu einem bestimmten Termin zur zwangsweisen Überstellung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen EU-Mitgliedstaat einzufinden (Selbstgestellung), allein hieraus kein „Flüchtigsein“ im Sinne der Dublin III-VO folgt, so dass eine Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate nicht gerechtfertigt ist.
Pressemitteilung des BverwG Nr. 53/2021 vom 17.07.2021 ergibt sich:
Die drittstaatsangehörigen Kläger haben nach Schutzgesuchen in anderen EU-Mitgliedstaaten Asylanträge in Deutschland gestellt, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) als unzulässig ablehnte (§ 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG). Die Ausländerbehörde forderte sie deshalb – teilweise nach erfolglosen Überstellungsversuchen – auf, sich zur Überstellung in den zuständigen EU-Mitgliedstaat zu einem bestimmten Termin bei der Polizeibehörde einzufinden.
Nachdem sie dem nicht Folge geleistet hatten, verlängerte das Bundesamt die Überstellungsfrist gegenüber den zuständigen Mitgliedstaaten auf 18 Monate, weil sie „flüchtig“ seien (Art. 29 Abs. 2 Satz 2 HS. 2 Dublin III-VO). Die Vorinstanzen haben die Unzulässigkeitsentscheidungen des Bundesamtes aufgehoben. Die Kläger seien nicht flüchtig gewesen. Mithin habe die Überstellungsfrist nicht verlängert werden dürfen, so dass die Zuständigkeit für die Durchführung der Asylverfahren inzwischen wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Beklagte übergegangen sei.
Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat die Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C 163/17 – Jawo) ist ein Schutzsuchender „flüchtig“ im Sinne der Dublin III-VO, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln, und sein Verhalten kausal dafür ist, dass eine Überstellung tatsächlich (zeitweilig) objektiv unmöglich ist. Bei der Überprüfung, ob ein Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt der daran anknüpfenden behördlichen Verlängerung der Überstellungsfrist „flüchtig“ war, hat das Gericht alle objektiv bestehenden Gründe zu berücksichtigen, auch wenn die Behörde die Verlängerungsentscheidung darauf nicht gestützt hat. Allein eine Verletzung von Mitwirkungspflichten rechtfertigt jedenfalls bei einer zwangsweisen Überstellung nicht die Annahme eines „Flüchtigseins„, solange der zuständigen Behörde der Aufenthalt des Antragstellers bekannt ist und sie die objektive Möglichkeit einer Überstellung – gegebenenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs – hat. Flugunwilligkeit, der Aufenthalt im offenen Kirchenasyl oder das einmalige Nichtantreffen des Betroffenen in der Unterkunft reichen regelmäßig nicht zur Begründung eines „Flüchtigseins„. Ungeachtet der Frage der Rechtsqualität einer Selbstgestellungsaufforderung im Dublin-Überstellungsverfahren und deren Ermächtigungsgrundlage im nationalen Recht begründet auch deren Nichtbefolgung kein „Flüchtigsein“ im unionsrechtlichen Sinne.