Das Landgericht Stuttgart hat mit Urteil vom 21.07.2021 zum Aktenzeichen 13 S 25/21 entschieden, wann und welche Desinfektionskosten ein Unfallgeschädigter beanspruchen kann.
Die Klägerin hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Ersatz von Desinfektionskosten.
Die Kammer geht davon aus, dass der Geschädigte vor der Übergabe eines reparierten Fahrzeugs von der Werkstatt an ihn eine Desinfektion der wesentlichen Kontaktflächen erwarten kann und dass der Aufwand hierfür im Rahmen der Schadensbeseitigung erforderlich ist.
In Zeiten der Corona-Pandemie darf der Geschädigte eine Desinfektion der wesentlichen Kontaktflächen vor Abholung des Fahrzeugs erwarten. Unabhängig davon, ob ein nennenswertes Risiko einer Schmierinfektion über Kontaktflächen objektiv besteht, wäre es für den Geschädigten eine über die bloße Lästigkeit hinausgehende Beeinträchtigung, wenn er das Fahrzeug ohne solche Maßnahmen entgegennehmen müsste. Die Bestimmung der „Erforderlichkeit“ im Sinne von § 249 Abs. 2 BGB hat auf die besonderen Umstände des Geschädigten, mitunter auch auf seine beschränkten Erkenntnismöglichkeiten Bedacht zu nehmen (BGH, Urteil vom 06.11.1973, VI ZR 27/73). Das eigene Fahrzeug ist ein Bereich der Privatsphäre, in dem die Empfindlichkeit hinsichtlich der hygienischen Verhältnisse und möglicher Kontaminationen von außen besonders hoch ist. Der Geschädigte kann nicht abschätzen, wie viele ihm unbekannte Mitarbeiter der Werkstatt sich in dem Fahrzeug wie lange aufgehalten oder Reparaturmaßnahmen vorgenommen haben. Aus seiner subjektiven Perspektive eines medizinischen Laien lässt sich eine Infektionsgefahr nach Abholung des Fahrzeugs zumindest nicht ausschließen. Sein Sicherheitsgefühl, also sein subjektives Interesse, sich keinem vermeidbaren Infektionsrisiko auszusetzen, erscheint in der Pandemie mit Blick auf die möglichen schweren Folgen einer Erkrankung und der zum Teil unklaren Informationslage schützenswert. Der Geschädigte nutzt das Auto nach der Abholung dauerhaft, so dass es für ihn – anders als für die Werkstattmitarbeiter – auch keine angemessene Option ist, sich etwa durch Handschuhe oder eine Maske zu schützen. Der Geschädigte und Werkstattkunde darf deshalb in der Regel erwarten, dass ständig genutzte Kontaktflächen wie das Lenkrad, die Schalthebel und der Türgriff nach Fertigstellung der Reparatur desinfiziert werden.
Die Desinfektion der genannten Flächen wird sich dabei regelmäßig ohne höheren Aufwand bewerkstelligen lassen. Es wird ausreichen, die Flächen mit einem Desinfektionsspray zu behandeln oder mit einem Desinfektionstuch abzuwischen. Die dadurch entstehenden Kosten schätzt die Kammer gemäß § 287 ZPO pauschal auf € 25,00 zuzüglich Umsatzsteuer, insgesamt somit auf € 29,75. Mit Blick auf den geringen Wert und das Bedürfnis einer praktikablen Schadensberechnung in zahlreichen bei den Gerichten anhängigen vergleichbaren Fällen hält es die Kammer für sachgerecht, ausreichend und angezeigt, den Schaden zu schätzen und für den Ersatz der Desinfektionskosten eine angemessene Schadenspauschale in Ansatz zu bringen. Eine Schätzgrundlage bildet für die Kammer dabei insbesondere die von der Klägerin vorgelegte Technische Mitteilung der Interessengemeinschaft für Fahrzeugtechnik und Lackierung e. V.. Die dort erwähnte Zeit- und Materialstudie hat – wie von der Werkstatt vorliegend abgerechnet – einen Arbeitsaufwand von 3 AW ermittelt. In dem geschätzten Aufwand ist allerdings auch die Desinfektion vor der Fahrzeugreparatur, die die Kammer nicht für erforderlich hält, enthalten. Zudem geht der in der Mitteilung dargestellte Umfang der Desinfektionsmaßnahmen (etwa Türrahmen, Sonnenblende, Hauptentriegelung) über das hinaus, was aus Sicht der Kammer vor der Übergabe an den Kunden als wesentliche Kontaktfläche zu desinfizieren ist. Gleichzeitig wurde in der Studie auch ein Aufwand für Verbrauchsmaterial in Höhe von € 7,50 ermittelt. Insgesamt erscheinen Kosten in Höhe von etwa der Hälfte der vorliegend tatsächlich abgerechneten Kosten und damit der zugesprochene Betrag angemessen.
Kosten für weitere Desinfektionsmaßnahmen sind nicht erstattungsfähig.
Insoweit fehlt es an der Erforderlichkeit solcher Maßnahmen für die Schadensbeseitigung.
Es ist für die Kammer nicht ersichtlich, dass weitere Desinfektionsmaßnahmen– insbesondere solche vor und während der Fahrzeugreparatur – vorgeschrieben oder notwendig wären. Ausdrücklich trägt die Klägerin gar nicht vor, welche Desinfektionsmaßnahmen der Rechnung zugrunde liegen. Ihrer Bezugnahme auf die Technische Mitteilung der Interessengemeinschaft für Fahrzeugtechnik und Lackierung e. V. ist zu entnehmen, dass die Werkstatt die dort aufgeführten Arbeitsschritte ausgeführt hat – somit auch Desinfektionsmaßnahmen vor der Reparatur, die die Kammer nicht für erforderlich hält. Die Kammer hat bereits Zweifel, ob die Werkstatt dem Kunden allgemeine Arbeitsschutzmaßnahmen gesondert in Rechnung stellen kann (dies ebenfalls ablehnend AG Pforzheim, Urteil vom 02.12.2020, 4 C 231/20; Wenker, jurisPR-VerbrR 7/2021). Für die Kammer erschließt sich jedenfalls nicht, weshalb dem Schutz der Werkstattmitarbeiter nicht durch das Benutzen von Handschuhen oder Masken ausreichend Rechnung getragen werden kann. Es ist nicht ersichtlich, dass darüber hinaus die Desinfektion eines Kundenfahrzeugs vorgeschrieben wäre. Die Beklagten weisen zu Recht darauf hin, dass selbst in der von der Klägerin vorgelegten Technischen Mitteilung der Interessengemeinschaft für Fahrzeugtechnik und Lackierung lediglich feststellt wird, dass eine Desinfektion von Kundenfahrzeugen in der Corona-Pandemie einen notwendigen Arbeitsaufwand darstellen kann und vom individuellen Schutzkonzept der Werkstatt abhängt. Dass eine Flächendesinfektion zwingend, insbesondere auch schon vor oder während der Reparatur vorgenommen werden müsste, ergibt sich aus dem Dokument ebenso wenig wie aus dem von der Klägerin vorgelegten Handlungshilfen für den Servicebereich im Kfz-Gewerbe der Berufsgenossenschaft Holz und Metall.
Es ist auch nicht ersichtlich, dass nach Abschluss der Reparaturmaßnahmen weitergehende Maßnahmen erforderlich wären, als die bereits erwähnte Desinfektion der Kontaktflächen. Auch aus diesem Gesichtspunkt ist ein Ersatz über den zugesprochenen geschätzten Betrag hinaus vom Schädiger nicht zu leisten.
Der Kläger kann Ersatz der geltend gemachten Desinfektionskosten auch nicht nach den Grundsätzen des Werkstattrisikos geltend machen (anders LG Coburg, Urteil vom 28.05.2021, 33 S 10/21; LG Würzburg, Urteil vom 24.03.2021, 42 S 2276/20; AG Vaihingen, Urteil vom 29.06.2021, 1 C 129/21; Staudinger/Altun, Unfälle in Corona-Zeiten und Erstattung von Desinfektionskosten, NZV 2021, 169, 170).
Nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB kann der Geschädigte den zur Wiederherstellung erforderlichen Geldbetrag verlangen. Erforderlich sind nur Aufwendungen, die vom Standpunkt eines verständigen, wirtschaftlich denkenden Menschen in der Lage des Geschädigten zur Behebung des Schadens zweckmäßig und angemessen erscheinen (BGH, Urteil vom 15.10.2013, VI ZR 528/12, sog. Wirtschaftlichkeitsgebot). Dem Geschädigten sind im Rahmen dessen auch Mehrkosten zu ersetzen, die ohne seine Schuld durch unsachgemäße Maßnahmen der Reparaturwerkstatt entstehen. Der Schädiger trägt das Werkstatt- und Prognoserisiko, falls den Geschädigten nicht ausnahmsweise hinsichtlich der gewählten Fachwerkstatt ein Auswahlverschulden trifft (vgl. BGH, Urteil vom 15. 10.1991, VI ZR 314/90). Hierbei sind auch die begrenzten Erkenntnis- und Einwirkungsmöglichkeiten des Geschädigten in den Blick zu nehmen. Sobald der Geschädigte das verunfallte Fahrzeug der Werkstatt zwecks Reparatur übergeben hat, hat er letztlich keinen Einfluss mehr darauf, ob und inwieweit sodann unnötige oder überteuerte Maßnahmen vorgenommen werden. Dies darf nicht zu Lasten des Geschädigten gehen, welcher ansonsten einen Teil seiner aufgewendeten Kosten nicht ersetzt bekommen würde (BGH, Urteil vom 29.10.1974, VI ZR 42/73; OLG Hamm, Urteil vom 31.01.1995, 9 U168/94). Zu den in den Verantwortungsbereich des Schädigers fallenden Mehrkosten gehören dabei grundsätzlich auch Kosten für unnötige Zusatzarbeiten, welche durch die Werkstatt ausgeführt wurden (OLG Magdeburg, Urteil vom 07.11.2019, 3 U 7/18). Die Ersatzfähigkeit von unnötigen Mehraufwendungen ist nur ausnahmsweise dann ausgeschlossen, wenn der Werkstatt ein äußerst grobes Verschulden zur Last fällt, so dass die Mehraufwendungen dem Schädiger nicht mehr zuzurechnen sind (OLG Magdeburg, Urteil vom 07.11.2019, 3 U 7/18).
Die hier streitgegenständlichen Desinfektionsarbeiten, soweit sie nicht für erforderlich gehalten wurden, sind nach Auffassung der Kammer indes nicht nach den Grundsätzen des Werkstattrisikos ersatzfähig (im Ergebnis ebenso LG Stuttgart, Urteil vom 27.11.2020, 19 O 145/20; hinsichtlich der Kosten für Desinfektionskosten vor der Reparatur ebenso AG Wolfratshausen, Urteil vom 15.12.2020, 1 C 687/20). Dabei kann dahingestellt bleiben, ob – wofür aus Sicht der Kammer einiges spricht – ein Ersatz nach diesen Grundsätzen bereits deshalb ausscheidet, weil die Klägerin die Reparaturrechnung nicht bezahlt hat (so LG Essen, Beschluss vom 27.07.2020, 13 S 97/19; AG Regensburg, Urteil vom 17.02.2021, 7 C 29/21; AG Sigmaringen, Urteil vom 28.06.2019, 2 C 501/18; Schäfer, jurisPRVerkR 12/2021 Anm. 4; de Biasi, Der Fahrzeugschaden in Zeiten von Corona, NZV 2021, 113, 114; anders LG Coburg, Urteil vom 28.05.2021, 33 S 10/21; Staudinger/Altun, Unfälle in Corona-Zeiten und Erstattung von Desinfektionskosten, NZV 2021, 169). Die durchgeführten Desinfektionsmaßnahmen sind jedenfalls deshalb nicht nach den Grundsätzen des Werkstattrisikos ersatzfähig, weil sie nicht als unmittelbarer Bestandteil der Reparaturarbeiten anzusehen sind. Es geht nicht um die Art der Ausführung der eigentlichen Reparatur und die Berechtigung einzelner hierbei anfallender Vergütungspositionen, es geht nicht um überhöhte Ansätze von Material oder Arbeitszeit oder eine unsachgemäße bzw. unwirtschaftliche Arbeitsweise (vgl. BGH, Urteil vom 29.10.1974 – VI ZR 42/73), sondern um eine eigenständige Leistung ohne unmittelbaren Zusammenhang zur technischen Durchführung der Reparatur. Anders als die Frage der Notwendigkeit und richtigen Abrechnung von Reparaturmaßnahmen setzt die Beurteilung der Erforderlichkeit der Desinfektionsmaßnahmen kein besonderes technisches Verständnis voraus. Letztlich macht die Werkstatt hier schlichtweg eine Leistung geltend, die nicht erforderlich und nicht beauftragt war. Es ist nicht ersichtlich, dass dem Geschädigten eine Berufung auf das Werkstattrisiko bislang auch in Fällen ermöglicht wurde, in denen die fragliche Abrechnungsposition mit dem eigentlichen Reparaturvorgang nicht in unmittelbarem Zusammenhang stand.
Ein Anspruch des Klägers besteht vorliegend auch nicht aus dem Gesichtspunkt der Indizwirkung der Rechnung.
Auch außerhalb des Werkstattrisikos hat der Bundesgerichtshof anerkannt, dass bei der Beurteilung, welcher Herstellungsaufwand erforderlich ist, auch Rücksicht auf die spezielle Situation des Geschädigten, insbesondere auf seine Erkenntnis- und Einflussmöglichkeiten sowie auf die möglicherweise gerade für ihn bestehenden Schwierigkeiten zu nehmen ist. Demzufolge besteht nach der Rechtsprechung zu überhöhten Sachverständigenkosten dann, wenn der Geschädigte tatsächliche Aufwände auf die Rechnung getätigt hat und diese Rechnung nicht erkennbar deutlich überhöht war oder evident nicht erforderliche Positionen enthielt, ein Indiz für die Bestimmung des zur Herstellung erforderlichen Betrags (BGH, Urteil vom 17.12.2019, VI ZR 315/18; Urteil vom 26.04.2016, VI ZR 50/15; Urteil vom 22.07.2014, VI ZR 357/13). Der tatsächliche Aufwand kann darin liegen, dass der Geschädigte die Rechnung bezahlt oder aber eine Verbindlichkeit zur Schadensbeseitigung eingeht (vgl. BGH, Urteil vom 17.12. 2019, VI ZR 315/18). Ob die Rechtsprechung zur Indizwirkung einer Rechnung überhaupt auch auf Fälle, in denen der Geschädigte die Reparaturrechnung einer Werkstatt geltend macht, anwendbar ist (so Nugel, jurisPR-VerkR 11/2021 Anm. 3), kann dahinstehen. Die Anwendung führt hier jedenfalls zu keinem Ersatzanspruch.
Vorliegend hat die Klägerin die Rechnung der Werkstatt gerade noch nicht bezahlt und damit keine tatsächliche Aufwendung getätigt, die eine Indizwirkung der Rechnung für die Erforderlichkeit der abgerechneten Maßnahmen entstehen lassen könnte.
Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin hinsichtlich der Desinfektionskosten eine bindende Verpflichtung gegenüber der Werkstatt eingegangen wäre. Selbst wenn die Klägerin das von ihr eingeholte Sachverständigengutachten, in dem eine Position „Corona Schutzmaßnahme“ mit einem Arbeitspreis von netto € 48,15 vorgesehen war, bei der Beauftragung der Reparatur vorgelegt haben sollte, folgt daraus nicht, dass die Klägerin tatsächlich auch Schutz- bzw. Desinfektionsmaßnahmen in dieser Höhe beauftragt hätte und damit eine Verbindlichkeit eingegangen wäre. Die Werkstatt darf bei der Beauftragung nicht davon ausgehen, dass jegliche im Sachverständigengutachten erwähnte Maßnahme genau zu diesem Preis beauftragt wird. Die Vorlage des Gutachtens bei der Beauftragung umschreibt vielmehr lediglich den technischen Umfang der erforderlichen Reparaturmaßnahmen. Ohnehin wurde das Gutachten auf der Kalkulationsbasis der Firma erstellt, weshalb dieses die dort tatsächlich geltend gemachten Preise, aber nicht deren Angemessenheit zum Ausdruck bringt. Die Annahme einer Indizwirkung der Rechnung würde zudem wohl daran scheitern, dass die Klägerin zum Zeitpunkt der Beauftragung anwaltlich vertreten war (vgl. BGH, Urteil vom 17.12. 2019, VI ZR 315/18).
Auch aus Wertungsgesichtspunkten erscheint eine Ersatzpflicht der weiteren geltend gemachten Desinfektionskosten nicht geboten. Die Versagung des Anspruchs führt zu keiner unangemessenen und mit § 249 BGB unvereinbaren Benachteiligung des Geschädigten (anders LG Coburg, Urteil vom 28.05.2021, 33 S 10/21 mit Blick auf Mühen und Risiken für den Geschädigten, wenn er sich gegen eine unberechtigte Forderung der Werkstatt wehren oder sich auf einen Rechtsstreit mit der Werkstatt einlassen muss).
Der Geschädigte darf vielmehr im Hinblick auf das schadensersatzrechtliche Bereicherungsverbot nicht besser gestellt werden, als er ohne das schädigende Ereignis stehen würde (BGH, Urteil vom 13.04.2021, VI ZR 274/20). Dies könnte der Fall sein, wenn er die Rechnung noch nicht bezahlt hat und dennoch Ersatz für Rechnungspositionen erhalten würde, deren Begleichung er gegenüber der Werkstatt verweigern könnte.
Auch wird der Geschädigte nicht zwingend mit einem doppelten Prozesskostenrisiko belastet, wenn man ihm den Ersatz weiterer Desinfektionskosten versagt. Dem Risiko, zwei Prozesse mit unterschiedlichem Ausgang führen zu müssen, kann er dadurch begegnen, dass er der Werkstatt den Streit verkündet (ebenso LG Essen, Beschluss vom 27.07.2020, 13 S 97/19).