Das Sozialgericht Stuttgart hat sich am 14.01.2021 zum Aktenzeichen S 25 AS 2384/20 mit Fragen im Zusammenhang mit der Annahme der Arbeitnehmereigenschaft nach § 2 Absatz 2 Nummer 1 FreizügG/EU bei Beendigung der aufgenommenen Tätigkeit aufgrund behördlicherseits angeordneter Betriebsschließung in Folge der Corona-Pandemie befasst.
Aus der Pressemitteilung des SG Stuttgart vom 04.08.2021 ergibt sich:
Die Klägerin hat die bulgarische Staatsangehörigkeit und begehrte im Klageverfahren von der Beklagten die Weiterbewilligung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit vom 11.03.2020 bis zum 30.06.2020. Die Beklagte lehnte die Weiterbewilligung der Leistungen nach dem SGB II mit der Begründung ab, die Klägerin habe ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche in Deutschland und daher bestünde kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Da die Klägerin in ihrer vorherigen Tätigkeit weniger als ein Jahr beschäftigt gewesen sei, wirke ihr Arbeitnehmerstatus sechs Monate bis zum 10.03.2020 fort. Zwar habe sie bereits am 14.02.2020 eine neue Tätigkeit aufgenommen. Laut des Arbeitsvertrages betrage die Arbeitszeit jedoch nur 2 Stunden wöchentlich. Dass die Klägerin bis zur pandemiebedingten Betriebsschließung zum 16.03.2020 im Monat März 2020 tatsächlich bereits 18 Stunden gearbeitet habe, führe nicht zur Annahme eines Arbeitnehmerstatus nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU 2004.
Das SG Stuttgart verurteilte die Beklagte, der Klägerin weiterhin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im streitgegenständlichen Zeitraum zu bewilligen.
Der Leistungsanspruch der Klägerin entfalle nicht aufgrund des seit dem 29.12.2016 geltenden Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, wonach Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, und ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hätten. Vielmehr habe die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum den Arbeitnehmerstatus nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU 2004 innegehabt. Die Eigenschaft als Arbeitnehmer sei grundsätzlich niedrigschwellig anzusetzen, da Art. 45 AEUV nicht eng auszulegen sei. Arbeitnehmer im Sinne des EU-Rechts sei, wer während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung echte und tatsächliche Leistungen erbringe, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhalte. Aus dieser weiten Definition seien lediglich Tätigkeiten von völlig untergeordneter oder unwesentlicher Bedeutung auszuscheiden. Eine Teilzeitbeschäftigung oder ein Minijob würden aber grundsätzlich genügen. In jedem Fall bedürfe es konkreter Ermittlungen der Verwaltungsbehörden und Gerichte, ob eine Arbeitnehmereigenschaft gegeben sei. Hierzu könnten Arbeitsverträge und/oder andere Unterlagen, insbesondere Lohnunterlagen betreffend ein behauptetes Beschäftigungsverhältnis herangezogen werden. Der Beklagten war zuzustimmen, dass bei alleiniger Heranziehung des Arbeitsvertrags eine Arbeitsnehmereigenschaft nicht hätte angenommen werden können. Eine Tätigkeit von nur 2 Stunden pro Woche mit einem Verdienst von 18,70 € pro Woche sei wegen ihres geringen Umfangs völlig untergeordnet und unwesentlich. Für die Kammer war jedoch anhand der Lohnabrechnungen nachgewiesen, dass die Klägerin in der Zeit vom 01.03.2020 bis zum 10.03.2020 tatsächlich 18,50 Stunden gearbeitet hat. Nach den glaubhaften Angaben der Klägerin wäre die Tätigkeit mindestens in diesem Umfang fortgesetzt worden, wenn nicht aufgrund der Corona-Pandemie der Betrieb nach behördlicher Anordnung zum 16.03.2020 geschlossen worden wäre.
Der Gerichtsbescheid ist rechtskräftig.