Nach Ansicht von Generalanwalt Maciej Szpunar im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof C-261/20 muss ein nationales Gericht eine nationale Regelung, die Mindestsätze für Dienstleistungserbringer in einer Weise festlegt, die gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstößt, unangewendet lassen, wenn es mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen über einen Anspruch befasst ist, der auf diese Regelung gestützt ist.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 140/2021 vom 15.07.2021 ergibt sich:
Diese Verpflichtung ergibt sich aus dem besonderen Charakter der die im Vertrag verankerte Niederlassungsfreiheit konkretisierenden Bestimmungen der Dienstleistungsrichtlinie sowie aus der gebotenen Achtung des in der Charta der Grundrechte der EU garantierten Grundrechts der Vertragsfreiheit.
Die Dienstleistungsrichtlinie (Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt – ABl. 2006, L 376, S. 36) bestimmt insbesondere, dass die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnung die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von der Beachtung von festgesetzten Mindest- und/oder Höchstpreisen durch den Dienstleistungserbringer abhängig macht. Die Mitgliedstaaten prüfen zudem, ob diese Preise nicht diskriminierend, erforderlich und verhältnismäßig sind.
2016 schlossen MN, der ein Ingenieurbüro betreibt, und die Thelen Technopark Berlin GmbH einen Vertrag, in dem sich MN verpflichtete, für die Thelen Technopark Berlin Ingenieurleistungen für ein Bauvorhaben in Berlin zu erbringen. Die Parteien vereinbarten, dass MN für die erbrachten Leistungen ein Pauschalhonorar in Höhe von 55 025 Euro erhalten sollte. Auf der Grundlage der Abschlagsrechnungen des MN zahlte ihm die Thelen Technopark Berlin insgesamt einen Bruttobetrag von 55 395,92 Euro.
2017, nach Kündigung des Vertrags über die Erbringung von Ingenieurleistungen, rechnete MN seine erbrachten Leistungen in einer Honorarschlussrechnung auf Grundlage der Mindestsätze gemäß der Verordnung über die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen (im Folgenden: HOAI) über einen höheren Betrag ab als den, der von den Parteien vertraglich vereinbart worden war. Anschließend verklagte er unter Berücksichtigung der bereits geleisteten Überweisungen und des als Sicherheit einbehaltenen Betrags die Thelen Technopark Berlin auf den Restbetrag des geschuldeten Honorars in Höhe von 102 934,59 Euro brutto zuzüglich Zinsen und vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.
Der Klage wurde von den Gerichten der ersten und zweiten Instanz weitgehend stattgegeben.
Der Gerichtshof hat mit Urteil vom 4. Juli 2019 (Urteil vom 4. Juli 2019, Kommission/Deutschland – C-377/17) festgestellt, dass Deutschland dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Dienstleistungsrichtlinie verstoßen hat, dass es verbindliche Honorarsätze für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren nach der HOAI beibehalten hat. Zudem hat der Gerichtshof entschieden (Beschluss vom 6. Februar 2020, hapeg dresden – C-137/18), dass die Bestimmungen dieser Richtlinie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der es verboten ist, in Verträgen mit Architekten oder Ingenieuren Honorare zu vereinbaren, die die Mindestsätze der HOAI unterschreiten.
Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof, der als Revisionsgericht mit dem Antrag der Thelen Technopark Berlin auf Abweisung der Klage befasst ist, dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt. Der Bundesgerichtshof möchte im Wesentlichen wissen, ob sich aus dem Unionsrecht ergibt, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit zwischen Privatpersonen anhängig ist, verpflichtet ist, eine Bestimmung des nationalen Rechts, aus der der Kläger seinen Klageanspruch ableitet, unangewendet zu lassen, wenn diese Bestimmung der Dienstleistungsrichtlinie widerspricht.
In seinen heutigen Schlussanträgen weist Generalanwalt Maciej Szpunar zunächst darauf hin, dass die nationalen Gerichte verpflichtet seien, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen (sog. konforme Auslegung). Bei dessen Anwendung seien sie verpflichtet, die Bestimmungen des nationalen Rechts so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der fraglichen Richtlinie auszurichten, damit das von ihr festgelegte Ergebnis erreicht werde. Erst wenn eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich sei, müsse ein nationales Gericht, das mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen befasst sei, eine der Richtlinie entgegenstehende nationale Bestimmung in einigen Situationen unangewendet lassen, u. a., wenn dies zur Wahrung eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts, einschließlich eines in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) konkretisierten Grundsatzes, erforderlich sei.
Da das vorlegende Gericht die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung der nationalen Bestimmung ausgeschlossen hat, prüft der Generalanwalt, ob im vorliegenden Fall für das nationale Gericht Gründe dazu bestehen, die der Richtlinie entgegenstehende nationale Bestimmung in dem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen nicht anzuwenden.
Der Generalanwalt stellt zunächst fest, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Dienstleistungsrichtlinie zwei Grundfreiheiten des Binnenmarkts, darunter die Niederlassungsfreiheit, habe umsetzen oder auch konkretisieren wollen. Die Dienstleistungsrichtlinie diene, im Unterschied zu anderen sekundärrechtlichen Vorschriften, die ausgewählte und in der Regel enge Aspekte der Niederlassungsfreiheit in einem bestimmten Sektor harmonisierten, nicht dazu, ausgewählte Aspekte der Dienstleistungstätigkeit zu harmonisieren, sondern den Vertrag selbst zu präzisieren. Kapitel III der Dienstleistungsrichtlinie (Mit dem Titel „Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer“) konkretisiere die in Art. 49 AEUV verankerte Niederlassungsfreiheit. Es solle daher genauso zulässig sein, sich in einem Rechtsstreit gegen eine Privatperson auf die Bestimmungen dieses Kapitels zu berufen, wie es zulässig sei, sich in ähnlichen Situationen unmittelbar auf die Niederlassungsfreiheit des Vertrags zu berufen. Gleichzeitig gälten, wie sich aus dem Urteil des Gerichtshofs in den Rechtssachen X und Visser (Urteil vom 30. Januar 2018, X und Visser (C-360/15 und C-31/16) ergebe, die Bestimmungen des Kapitels III der Dienstleistungsrichtlinie auch in einer Situation, in der alle relevanten Sachverhaltselemente in nur einem Mitgliedstaat aufträten. Kapitel III der Dienstleistungsrichtlinie konkretisiere damit nicht nur die im Vertrag verankerte Niederlassungsfreiheit, sondern dehne auch die Grenzen ihrer Anwendung auf rein innerstaatliche Angelegenheiten aus. Folglich müsse ein nationales Gericht eine nationale Regelung, die Mindestsätze für Dienstleistungserbringer in einer Weise festlege, die gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstoße, unangewendet lassen, wenn es mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen über einen Anspruch befasst sei, der auf diese Regelung gestützt sei, und eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich sei.
Als Nächstes prüft der Generalanwalt die Möglichkeit, die streitige nationale Bestimmung nicht anzuwenden, weil sie gegen die in der Charta garantierte Vertragsfreiheit verstößt. Aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (Erläuterungen zur Charta der Grundrechte – ABl. 2007, C 303, S. 17) gehe hervor, dass diese Freiheit Bestandteil der unternehmerischen Freiheit sei, um die es in Art. 16 der Charta gehe. Nach Auffassung des Generalanwalts ist die Vertragsfreiheit ein Recht, das sowohl in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten als auch im Unionsrecht anerkannt sei. Sie verleihe Privatpersonen bestimmte Rechte, u. a. das Recht der Vertragsparteien, den Inhalt des Rechtsverhältnisses durch die Festlegung des Preises für die Dienstleistung zu gestalten. Nach Ansicht des Generalanwalts handelt es sich bei Art. 16, soweit er die Freiheit der Parteien bei der Festlegung des Preises für die Dienstleistung gewährleiste, um eine „eigenständige“ Bestimmung, d. h. um eine Bestimmung, die ausreichend sei, um Privatpersonen ein Recht zu verleihen, das sie in Rechtsstreitigkeiten mit anderen Privatpersonen als solches geltend machen könnten.
Nach Einschätzung des Generalanwalts folgt aus der Vertragsfreiheit, dass der Einzelne das Recht auf Freiheit von Eingriffen in die Willensautonomie der Parteien eines Rechtsverhältnisses habe, sei es ein potenzielles oder ein bestehendes Rechtsverhältnis. Das wichtigste Mittel für Eingriffe in die Vertragsfreiheit bestehe darin, dass der Staat diese Freiheit einschränke. Daher könne der Schutz gegen einen solchen Eingriff in einem Rechtsstreit mit einer Vertragspartei, die ihr Recht aus einer solchen Einschränkung ableite, nur durch die Einrede der Rechtswidrigkeit der Freiheitseinschränkung erfolgen. Ihre Rechtmäßigkeit hänge wiederum davon ab, ob sie die Bedingungen erfülle, die die in Art. 52 Abs. 1 der Charta („Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“) genannten Einschränkungen der Rechte und Freiheiten erfüllen müssten. Dem Generalanwalt zufolge bedeutet die Feststellung des Gerichtshofs im Urteil vom 4. Juli 2019 (Urteil vom 4. Juli 2019, Kommission/Deutschland (C-377/17), dass die streitige Bestimmung des nationalen Rechts, die eine Einschränkung des Rechts zur freien Preisbestimmung vorsieht, mit der Bestimmung des Unionsrechts, die die Grenzen für den Erlass einer solchen Bestimmung festlegt, unvereinbar ist, dass die Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet bleiben müsse. Im Fall einer solchen Unvereinbarkeit stehe nämlich außer Zweifel, dass die im nationalen Recht vorgesehene Beschränkung des Rechts zur freien Bestimmung des Preises nicht den Voraussetzungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta genüge. Daher hat, dem Generalanwalt zufolge, das nationale Gericht die streitige nationale Bestimmung, die gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstößt, mit der Begründung unangewendet zu lassen, dass das Grundrecht der Vertragsfreiheit in Bezug auf das Recht der Parteien, den Preis festzulegen, gewahrt werden muss.