Schlussanträge zur Unabhängigkeit der Justiz in Polen

08. Juli 2021 -

Nach Auffassung von Generalanwalt Bobek im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof zum Aktenzeichen C-132/20 sind die vom Obersten Gericht Polens geschilderten Umstände nicht geeignet, Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit womöglich aller vor 2018 ernannten polnischen Richter aufkommen zu lassen.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 123/2021 vom 08.07.2021 ergibt sich:

Im Rahmen einer bei ihm anhängigen Rechtsbeschwerde hat der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) dem Gerichtshof eine Reihe von Fragen vorgelegt. Das nationale Gericht ist insbesondere der Ansicht, dass einige der Richter des Sąd Apelacyjny we Wrocławiu (Berufungsgericht Breslau, Polen), die am Erlass des Urteils vom 28. Februar 2019 mitgewirkt hätten, mit dem die Berufungen der Rechtsbeschwerdeführer abgewiesen worden seien (angefochtenes Urteil), aufgrund des Verfahrens, mit dem sie erstmals zum Richter ernannt worden seien, die sich aus dem Unionsrecht ergebende Anforderung an die Unabhängigkeit möglicherweise nicht erfüllen würden.

Insbesondere möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Umstände der erstmaligen richterlichen Ernennung eines Richters in einem Mitgliedstaat zu einer Zeit, als dieser noch von einem undemokratischen Regime regiert wurde, und vor dem Beitritt dieses Staates zur Europäischen Union sowie der Verbleib eines solchen Richters in der Justiz dieses Staates nach dem Fall des kommunistischen Regimes geeignet sind, heute Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses Richters im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) zu wecken.

In seinen Schlussanträgen vom 08.07.2021 prüft Generalanwalt Bobek zunächst die vom Rzecznik Praw Obywatelskich (Bürgerbeauftragter, Polen) vorgebrachten Argumente zur angeblichen Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens. Der Bürgerbeauftragte trägt vor, dass die Vorlageentscheidung von einem Richter eingereicht worden sei, dessen eigene kürzlich erfolgte Ernennung zum Richter unter Umständen erfolgt sei, die geeignet seien, Zweifel an seiner Unabhängigkeit aufkommen zu lassen. Aus diesem Grund seien der vorlegende Richter selbst und damit das vorlegende Gericht für die Zwecke von Art. 267 AEUV kein durch Gesetz errichtetes und unabhängiges Gericht, und dieses Gericht sei infolgedessen nicht berechtigt gewesen, den Gerichtshof anzurufen. Hierzu führt der Generalanwalt aus, dass der Begriff „Gericht“ im Rahmen von Art. 267 AEUV funktionalen Charakter habe: Er diene dazu, die nationalen Stellen zu bestimmen, die – soweit sie rechtsprechende Funktionen ausübten – im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens Gesprächspartner des Gerichtshofs werden könnten. Mit dem Vorabentscheidungsverfahren sei eine gerichtliche Zusammenarbeit zwischen Gerichten, nicht zwischen Personen, geschaffen worden. Deshalb müsse sich die rechtliche Bewertung ihrer Akteure notwendigerweise auf strukturelle, institutionelle Fragen konzentrieren. Entscheidend seien dabei die Art, die Stellung und die Arbeitsweise dieser Einrichtung innerhalb des institutionellen Rahmens des betreffenden Mitgliedstaats. Andererseits sei diese Analyse nicht dazu gedacht, zu überprüfen, ob konkrete Personen, die dieser Einrichtung angehörten und Mitglied des Spruchkörpers seien, der die Vorlage eingereicht habe, jeweils individuell die in Art. 267 AEUV festgelegten Kriterien erfüllten. In dieser Hinsicht könnten die möglichen Mängel im Ernennungsverfahren des Richters, der die Vorlageentscheidung in der vorliegenden Rechtssache erlassen habe, und/oder seine persönlichen und beruflichen Bindungen zum Justizminister/Generalstaatsanwalt sehr wohl die Feststellung zur Folge haben, dass ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 EUV und/oder Art. 47 der Charta vorliege. Allerdings sollten sie, sofern nicht die gesamte gerichtliche Einrichtung „vereinnahmt“ worden sei und deshalb nicht länger als Gericht angesehen werden könne, nicht automatisch die Unzulässigkeit eines vom Obersten Gericht eines Mitgliedstaats eingereichten Vorabentscheidungsersuchens zur Folge haben.

Als Nächstes erläutert der Generalanwalt die Art und Weise, wie die Prüfung der Einhaltung des in Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta verankerten Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit zu erfolgen hat. Er weist darauf hin, dass unabhängig von dem für die Ernennung gewählten verfassungsrechtlichen Modell jedoch sicherzustellen sei, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass der Ernennungsentscheidungen so beschaffen seien, dass sie bei den Rechtsunterworfenen, wenn die betreffenden Richter erst einmal ernannt seien, keine berechtigten Zweifel an deren Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen ließen. Deshalb müsse ein nationales Gericht, um die Einhaltung des Grundsatzes der Unabhängigkeit der Justiz zu beurteilen, alle erheblichen Umstände prüfen und gegebenenfalls die Gründe und spezifischen Ziele der nationalen Maßnahmen berücksichtigen, die auf den jeweiligen Sachverhalt anwendbar sein könnten. In diesem Zusammenhang könnten je nach den Merkmalen des betreffenden Falles und der/den anwendbaren Unionsvorschrift(en) sowohl formale und institutionelle Faktoren als auch fallspezifische Faktoren erheblich sein. Die Bedeutung dieser Faktoren sollte nicht für sich oder isoliert bewertet, sondern zusammen im Licht der weiteren rechtlichen und institutionellen Landschaft beurteilt werden.

Des Weiteren prüft Generalanwalt Bobek, ob die Umstände der ersten Ernennung eines der Richter des Gerichts, das das angefochtene Urteil erlassen hat (Richter FO), die unter dem kommunistischen Regime der damaligen Volksrepublik Polen erfolgte, Auswirkungen auf seine Unabhängigkeit bei der derzeitigen Ausübung seiner richterlichen Tätigkeit haben. Er ist der Ansicht, dass die Vorlageentscheidung kaum konkrete Erklärungen dazu enthalte, wer die Person, das Organ oder die Einrichtung sein könnte, die derzeit in der Lage wäre, unzulässigen Druck auf den Richter FO auszuüben, und aus welchen Gründen der Richter FO geneigt sein könnte, diesem Druck nachzugeben. Allgemeiner gesagt, bringt er seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, wie die sich aus Art. 19 Abs. 1 EUV und/oder Art. 47 der Charta ergebenden Vorschriften und Maßstäbe auf die Ernennung von Richtern in Polen vor 1989 angewandt werden könnten. Nichts lasse nämlich erkennen, weshalb die nationalen Vorschriften, auf die das vorlegende Gericht verwiesen habe, trotz ihrer Außerkraftsetzung vor Jahrzehnten auch heute noch eine gewisse Wirkung entfalten könnten. In der Tat käme jedes gerichtliche Eingreifen, das die Entscheidungen eines nationalen Richters, wie des Richters FO, für ungültig erklären würde, nur weil er erstmals in der Volksrepublik Polen in ein richterliches Amt berufen worden sei, einer erneuten Lustrationsmaßnahme gleich. Der Generalanwalt bezweifelt jedoch, dass der Erlass einer Maßnahme wie der vom vorlegenden Gericht in Betracht gezogenen heute als mit dem Unionsrecht vereinbar angesehen würde. Er sieht mehrere Probleme in Bezug auf Art. 2 EUV (Rechtsstaatlichkeit) und die Art. 47 und 48 der Charta (faires Verfahren). Zudem erscheine der Erlass einer solchen Maßnahme mehrere Jahrzehnte nach dem Fall des kommunistischen Regimes in einer demokratischen Gesellschaft nicht objektiv notwendig. Deshalb sei die bloße Tatsache, dass einige Richter während der Ära der Volksrepublik Polen erstmals in ein richterliches Amt berufen worden seien, für sich genommen kein Faktor, der als solcher ihre Unabhängigkeit heute in Frage stellen könne. Daher seien die vom nationalen Gericht angeführten Umstände nicht geeignet, Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines nationalen Richters wie des Richters FO im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta aufkommen zu lassen.

Ebenso sei der Umstand, dass einige Mitglieder, die dem Spruchkörper des Gerichts, der das angefochtene Urteil erlassen habe, angehörten, auf der Grundlage von Beschlüssen der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) in einer Zusammensetzung ernannt worden seien, die sich aus Rechtsvorschriften ergeben habe, die später vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgericht, Polen) für verfassungswidrig erklärt worden seien, ebenfalls nicht geeignet, Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von nationalen Richtern im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta aufkommen zu lassen. Nach Ansicht des Generalanwalts ist nämlich nichts an „Motiv, Mittel und Gelegenheit“ in Bezug auf einen möglichen Mangel an Unabhängigkeit der in Rede stehenden Richter zu erkennen. Insbesondere hat er Zweifel, ob irgendjemand derzeit in der Lage sein könnte, als Folge oder wegen der Umstände ihrer Ernennung unzulässigen Druck auf diese Richter auszuüben, und warum diese Richter geneigt sein könnten, sich diesem Druck zu beugen.

Schließlich verletzt nach Ansicht des Generalanwalts der andauernde Verbleib von Richtern, die politischen, wirtschaftlichen oder anderen Formen von Druck ausgesetzt seien, den Kern eines auf Rechtsstaatlichkeit basierenden Rechtssystems und einer auf Gewaltenteilung beruhenden Demokratie. Deshalb verpflichte Art. 47 der Charta, in dem das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem zuvor durch Gesetz errichteten unabhängigen und unparteiischen Gericht und auf ein faires Verfahren verankert sei, nationale Gerichte, zu prüfen, ob eine Vorschriftswidrigkeit in einem Verfahren zur Ernennung eines Richters zu einer Verletzung durch das Unionsrecht verliehener Rechte führen könnte. Bestehe in diesem Punkt ein echter und ernsthafter Zweifel, habe das Gericht diese Frage von Amts wegen zu prüfen. Der Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter hindere die nationalen Gerichte nicht daran, diese Überprüfung vorzunehmen.