Generalanwalt Szpunar hat am 01.07.2021 im Verfahren C-118/20 vor dem Europäischen Gerichtshof seine Schlussanträge zu der Frage vorgelegt, ob ein Widerruf einer Einbürgerungszusicherung, wenn er zum dauerhaften Verlust der Unionsbürgerschaft führt, am unionsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen ist, und unter welchen Voraussetzungen er mit diesem Grundsatz vereinbar sein kann.
Aus der Pressemitteilung des EuGH vom 01.07.2021 ergibt sich:
Die österreichischen Behörden sicherten einer estnischen Antragstellerin die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft für den Fall zu, dass sie binnen zwei Jahren nachweist, dass sie ihre bisherige estnische Staatsangehörigkeit aufgegeben habe. Die Antragstellerin legte eine solche Bestätigung fristgerecht vor. Sie ist seitdem staatenlos und folglich auch nicht mehr Unionsbürgerin. Später widerriefen die Behörden die Zusicherung und wiesen den Antrag auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft ab. Begründet wurde dies damit, dass die Antragstellerin angesichts zweier nach der Zusicherung begangener schwerwiegender Verwaltungsübertretungen und unter Berücksichtigung bereits zuvor begangener Verwaltungsübertretungen die Voraussetzung, dass sie keine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit darstelle, nicht mehr erfülle.
Der österreichische Verwaltungsgerichtshof ersucht den EuGH unter Hinweis auf dessen bisherige Rechtsprechung zum Verlust der Unionsbürgerschaft um Klärung, ob in einer solchen Situation das Unionsrecht und insbesondere dessen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist.
In seinen Schlussanträgen vom 01.07.2021 schlägt Generalanwalt Szpunar dem EuGH vor, dem österreichischen Verwaltungsgerichtshof wie folgt zu antworten:
- Die Situation einer natürlichen Person, die nur die Staatsangehörigkeit eines einzigen Mitgliedstaats besitzt und auf diese Staatsangehörigkeit und somit auf ihren Status als Bürger der Europäischen Union verzichtet, um die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats entsprechend der Entscheidung der Behörden des letztgenannten Staates zu erlangen, mit der ihr die Verleihung dieser Staatsangehörigkeit zugesichert wurde, wobei diese Entscheidung anschließend jedoch widerrufen und der Antrag der betreffenden Person auf Verleihung der genannten Staatsangehörigkeit abgelehnt worden ist, wodurch diese Person an der Wiedererlangung des Unionsbürgerstatus gehindert wird, fällt ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht.
- Der im Licht von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgelegte Art. 20 AEUV steht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die es diesem Mitgliedstaat ermöglichen, die Zusicherung der Verleihung seiner Staatsbürgerschaft aus Gründen des Allgemeininteresses zu widerrufen, selbst wenn die Widerrufsentscheidung den Verlust des Unionsbürgerstatus der betreffenden Person besiegelt und dazu führt, dass die genannte Person diesen Status und die damit verbundenen Rechte nicht wiedererlangen kann, grundsätzlich nicht entgegen, sofern die zuständigen nationalen Behörden, einschließlich gegebenenfalls der nationalen Gerichte, prüfen, ob die fragliche Entscheidung in Anbetracht ihrer Folgen für die Situation der betreffenden Person im Hinblick auf das Unionsrecht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist und diesem Grundsatz mithin entspricht.
Im Rahmen dieser Prüfung hat das vorlegende Gericht u. a. zu prüfen, ob eine solche Entscheidung im Hinblick auf die Schwere der von der Person begangenen Rechtsverstöße, die Zeitspanne zwischen dem Tag der Erteilung der Zusicherung und dem Tag ihres Widerrufs, die Beschränkungen der Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt sowie die Möglichkeit, ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit wiederzuerlangen, gerechtfertigt ist und ob diese Person im Hinblick auf das Unionsrecht unverhältnismäßigen Folgen ausgesetzt sein wird, die die normale Entwicklung ihres Familien- und Berufslebens beeinträchtigen.
Demnach steht eine Entscheidung über den Widerruf der Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft wie die Entscheidung der Wiener Landesregierung (Österreich) vom 6. Juli 2017, die in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden den Verlust des Status einer betroffenen Person als Bürger der Europäischen Union besiegelt und mit Verwaltungsübertretungen im Zusammenhang mit der Straßenverkehrssicherheit, vor allem solchen, die nicht geeignet sind, den Entzug der Fahrerlaubnis nach sich zu ziehen, begründet wird, nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit des Unionsrechts im Einklang.
Nach Ansicht des Generalanwalts fällt die Situation einer Person, die, nachdem sie auf ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit verzichtet hat, um eine im Recht des Aufnahmemitgliedstaats vorgegebene Voraussetzung für die Verleihung von dessen Staatsangehörigkeit zu erfüllen, mit einer von den Behörden dieses Staates erlassenen Entscheidung über den Widerruf der Zusicherung der Verleihung der Staatsangehörigkeit konfrontiert wird, wodurch sie in eine Lage versetzt wird, in der sie den Unionsbürgerstatus und die damit verbundenen Rechte dauerhaft verliert, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht. Die streitige Entscheidung müsse folglich den unionsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten.
Insoweit glaubt der Generalanwalt nicht, dass eine Entscheidung über den Widerruf der Zusicherung der Staatsbürgerschaft, die den Verlust des Unionsbürgerstatus der betreffenden Person besiegelt, auf Verwaltungsübertretungen im Zusammenhang mit der Straßenverkehrssicherheit gestützt werden kann, die nicht einmal schwerwiegend genug sind, um den Entzug einer Fahrerlaubnis nach sich zu ziehen.
Was die Möglichkeit für die betreffende Person, ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit wiederzuerlangen, anbelange, so gehe aus einer Antwort der estnischen Regierung hervor, dass sie nach der Auflösung des Staatsverbands mit dieser Person im estnischen Recht nicht gegeben sei, da eine der zu erfüllenden Voraussetzungen für den Erhalt der genannten Staatsangehörigkeit ein achtjähriger Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat sei. Derartige Gegebenheiten dürften von den österreichischen Behörden nicht außer Acht gelassen werden.