Nach Ansicht von Generalanwalt Szpunar im Verfahren C-638/19 P vor dem Europäischen Gerichtshof ist dem Gericht ein Rechtsfehler unterlaufen, als es festgestellt hat, dass die Kommission nicht dafür zuständig sei, die von Rumänien im Anschluss an einen Schiedsspruch gezahlte Entschädigung anhand des Beihilferechts zu prüfen. Ein Schiedsverfahren, das auf der Grundlage eines bilateralen Investitionsschutzabkommens eingeleitet wurde, das ein Mitgliedstaat und ein am Schiedsverfahren beteiligter Drittstaat vor dessen Beitritt zur Union geschlossen haben, ist nach Auffassung des Generalanwalts nicht geeignet, die Autonomie des Unionsrechts zu beeinträchtigen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 118/2021 vom 01.07.2021 ergibt sich:
Im Jahr 1998 erließen die rumänischen Behörden eine Dringlichkeitsverordnung, mit der Investoren in benachteiligten Gebieten während eines Zeitraums von zehn Jahren bestimmte Investitionsanreize gewährt wurden. Im Rahmen des Prozesses der Vorbereitung des Beitritts zur Union beendete Rumänien diese Anreize im Jahr 2005, d. h. drei Jahre früher als in der Verordnung vorgesehen.
Ioan und Viorel Micula, schwedische Investoren mit Wohnsitz in Rumänien, sind Mehrheitsaktionäre der Gesellschaft European Food and Drinks Group, der diese Anreize gewährt wurden. Gemäß einem im Jahr 2002 zwischen Schweden und Rumänien geschlossenen bilateralen Investitionsschutzabkommen zur Förderung und zum gegenseitigen Schutz von Investitionen (BIT) beantragten Ioan und Viorel Micula sowie weitere Kläger die Einsetzung eines Schiedsgerichts, um Ersatz für die Schäden zu erhalten, die ihnen durch die Aufhebung der in der Dringlichkeitsverordnung vorgesehenen Anreize entstanden waren. Im Jahr 2013 stellte das Schiedsgericht fest, dass Rumänien keine faire und gleiche Behandlung der Investitionen sichergestellt habe, und sprach den Klägern Schadensersatz in Höhe von etwa 180 Mio. Euro zu.
Im Jahr 2015 erließ die Kommission einen Beschluss, in dem sie die Auffassung vertrat, dass die Zahlung der Entschädigung eine staatliche Beihilfe darstelle, und Rumänien aufgab, die bereits gezahlten Beträge zurückzufordern und jede weitere Zahlung zu unterlassen. Das mit dieser Rechtssache befasste Gericht der Europäischen Union erklärte den Beschluss der Kommission im Jahr 2019 für nichtig (Urt. v. 18.06.2019 – T-624/15, T-694/15 und T-704/15), weil diese nicht dafür zuständig sei, die Entschädigung, die den Schaden ausgleichen solle, der durch die vorzeitige, vor dem Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union erfolgte Rücknahme von Anreizen entstanden sei, anhand des Beihilferechts zu prüfen, und weil diese Entschädigung keine staatliche Beihilfe darstelle. Die Europäische Kommission hat ein Rechtsmittel eingelegt, mit dem sie beantragt, das Urteil des Gerichts aufzuheben.
In seinen Schlussanträgen vom 01.07.2021 weist Generalanwalt Maciej Szpunar zunächst das Vorbringen zurück, wonach das in Rede stehende Schiedsverfahren und der anschließende Schiedsspruch in Anbetracht der vom Gerichtshof im Urteil „Achmea“ vom 06.03.2018 (C-284/16) aufgestellten Grundsätze gegen den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und die Autonomie des Unionsrechts verstießen. Gemäß diesem Urteil stehe das Unionsrecht einem Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten entgegen, der in einem zwischen zwei Mitgliedstaaten geschlossenen Investitionsschutzabkommen vereinbart sei und vorsehe, dass ein Schiedsgericht, das außerhalb des Rechtssystems der Union stehe und nicht der Kontrolle durch ein Gericht eines Mitgliedstaats unterliege, das Unionsrecht auslegen oder anwenden könne.
Hierzu bemerkt der Generalanwalt, dass die Rechtsprechung, die auf das Urteil Achmea zurückgehe, zwar ab dem Tag des Beitritts in Rumänien gelte, dass jedoch zu prüfen sei, inwieweit die sich aus diesem Urteil ergebenden Grundsätze auf Schiedsverfahren anwendbar seien, die vor dem Beitritt Rumäniens zur Union eingeleitet worden und zum Zeitpunkt dieses Beitritts noch anhängig gewesen seien. Er stellt fest, dass in diesem Fall die Anwendung des Unionsrechts die besonderen Merkmale dieses wirksam eingeleiteten Schiedsverfahrens, das eine Streitigkeit vor dem Beitritt betreffe, nicht beseitigen könne.
Somit sei – im Gegensatz zu dem Schiedsverfahren, um das es in der Rechtssache Achmea gegangen sei – ein Schiedsverfahren, das auf der Grundlage eines Investitionsschutzabkommens eingeleitet worden sei, das ein Mitgliedstaat und ein am Schiedsverfahren beteiligter Drittstaat vor dessen Beitritt zur Union geschlossen hätten, auch nach diesem Beitritt nicht geeignet, die Autonomie des Unionsrechts zu beeinträchtigen, so dass kein Verstoß gegen die Art. 267 und 344 AEUV festgestellt werden könne und sich folglich die Grundsätze, die sich aus dem Urteil Achmea ergäben, nicht auf ein solches Schiedsverfahren anwenden ließen.
Der Generalanwalt prüft sodann die Frage, zu welchem Zeitpunkt die staatliche Beihilfe als vom Mitgliedstaat gewährt anzusehen ist, um feststellen zu können, ob das Beihilferecht zu diesem Zeitpunkt anwendbar und die Kommission für den Erlass dieses Beschlusses zuständig war.
Insoweit weist er darauf hin, dass der Zeitpunkt der Gewährung einer Beihilfemaßnahme nicht mit dem Zeitpunkt der tatsächlichen Auszahlung der Beihilfe durcheinandergebracht werden dürfe. Das entscheidende Kriterium für die Bestimmung des Zeitpunkts der Gewährung einer mutmaßlichen Beihilfe sei der Erwerb eines sicheren Rechtsanspruchs des Begünstigten auf diese Beihilfe und die daraus folgende entsprechende Verpflichtung des Staates zur Gewährung der Maßnahme.
Somit schließt sich der Generalanwalt nicht der Auffassung des Gerichts an, wonach der Anspruch von European Food u. a. auf die mutmaßliche Beihilfe in Gestalt der durch den Schiedsspruch zugesprochenen Entschädigung zu dem Zeitpunkt entstanden sei, zu dem Rumänien gegen die Bestimmungen des BIT verstoßen habe. Die Verpflichtung Rumäniens, diese Entschädigung zu leisten, und der Anspruch auf die Entschädigung seien nämlich erst mit der Entscheidung des Rechtsstreits entstanden.
Daher hat das Gericht seiner Ansicht nach einen Rechtsfehler begangen und den Sachverhalt rechtlich fehlerhaft beurteilt, als es festgestellt hat, dass die in Rede stehende Beihilfe zu dem Zeitpunkt gewährt worden sei, zu dem Rumänien gegen das BIT verstoßen habe. Die mutmaßliche Beihilfemaßnahme sei nämlich zu dem Zeitpunkt gewährt worden, zu dem der Anspruch auf Entschädigung anerkannt und Rumänien dementsprechend verpflichtet worden sei, diese Entschädigung zu zahlen, d. h. nach dem Erlass des Schiedsspruchs, als dieser von Rumänien umgesetzt worden sei, und damit nach dem Beitritt Rumäniens zur Union. Daraus folge, dass das Unionsrecht auf diese Maßnahme anwendbar und die Kommission nach Art. 108 AEUV für die beihilferechtliche Prüfung der Entschädigung zuständig gewesen sei.
Schließlich prüft der Generalanwalt, ob das Gericht den Begriff des Vorteils im Sinne von Art. 107 AEUV falsch ausgelegt hat. In diesem Zusammenhang stellt er einen Rechtsfehler und einen gewissen Widerspruch in der Begründung des Gerichts fest, da das Gericht einerseits festgestellt habe, dass wegen der Unanwendbarkeit des Unionsrechts auf die Entschädigung kein Vorteil vorliege, andererseits aber eingeräumt habe, dass das Unionsrecht tatsächlich anwendbar sei, soweit die Entschädigung für die Rücknahme der Dringlichkeitsverordnung auf die Zeit nach dem Beitritt entfalle.
Erstens beruhe die Begründung des Gerichts, die Kommission habe nicht rechtswirksam auf das Vorliegen eines solchen Vorteils schließen können, ausschließlich auf der fehlerhaften Prämisse, dass die Kommission für eine beihilferechtliche Prüfung der Entschädigung nicht zuständig gewesen sei.
Was zweitens das Vorbringen der Kommission anbelange, wonach die auf das Urteil „Asteris u.a.“ v, 27.09.1988 (verbundene Rechtssachen C-106/87 bis C-120/87) zurückgehende Rechtsprechung auf den Teil der Entschädigung anzuwenden sei, der auf den Zeitraum vor dem Beitritt entfalle, so hänge die Frage, ob diese Rechtsprechung unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache einschlägig sei, nicht allein davon ab, ob die Entschädigung zur Wiederherstellung einer Maßnahme führe, die vor dem Beitritt als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 AEUV habe eingestuft werden können. In ihrem Beschluss habe die Kommission es nämlich ausgeschlossen, dass diese Rechtsprechung auf ein Schiedsverfahren angewandt werden könne, und sich ferner darauf berufen, dass die nach der Dringlichkeitsverordnung gewährten Anreize vom rumänischen Wettbewerbsrat auf der Grundlage der Vereinbarung von 1995 als „Beihilfen“ eingestuft worden seien.
Unabhängig von der Frage, ob diese beiden Gesichtspunkte stichhaltig waren, weist der Generalanwalt darauf hin, dass das Gericht nur einen der Gründe, die die Kommission veranlasst hätten, von der Anwendung der auf das Urteil Asteris u. a. zurückgehenden Rechtsprechung abzusehen, auf seine Rechtmäßigkeit überprüft habe. Seiner Auffassung nach konnte das Gericht daher nicht rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gelangen, dass der Beschluss der Kommission hinsichtlich der Einstufung als Vorteil mit einem Rechtsfehler behaftet sei, ohne zugleich zu prüfen, ob die Kommission die Anwendung der auf das Urteil Asteris u. a. zurückgehenden Rechtsprechung zu Unrecht ausgeschlossen habe.
Der Generalanwalt schlägt dem Gerichtshof folglich vor, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen.