Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen will den Geschwisternachzug erleichtern: Ihr Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes ist allerdings auf ein geteiltes Echo der Experten gestoßen.
Aus hib – heute im bundestag Nr. 819 vom 22.06.2021 ergibt sich:
Das zeigte eine öffentliche Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat am 21.06.2021 unter dem Vorsitz von Jochen Haug (AfD). So begrüßte ein Teil der Sachverständigen den Vorstoß der Fraktion, Geschwisterkinder als Nachzugsberechtigte anzuerkennen (BT-Drs. 19/27189 – PDF, 311 KB). Dass bislang nur Eltern und nicht minderjährige, ledige Geschwister von als schutzberechtigt anerkannten Flüchtlingskindern nach Deutschland nachziehen dürften, führe oft zu jahrelangen Trennungen und großem Leid. Eine Regelung sei dringend geboten. Andere Sachverständige kritisierten, eine Erleichterung des Geschwisternachzugs schaffe zusätzliche Anreize und widerspreche der gegenwärtigen „Kontingentlösung“.
„Weder notwendig noch verhältnismäßig“, so bewertete der Sachverständige Dieter Amann den Gesetzentwurf. Bereits unter den gegenwärtigen rechtlichen Bedingungen könnten minderjährige Geschwister nachziehen, führte der Diplom-Verwaltungswirt an, auch wenn dies schwierig sei. Eine Erleichterung aber setze zusätzliche Anreize für einen „schleichenden Familiennachzug“ und leiste einem Missbrauch durch „Ankerkinder“ Vorschub, warnte der Sachverständige in seiner schriftlichen Stellungnahme.
Kay Hailbronner vom Forschungszentrum Asyl- und Ausländerrecht der Universität Konstanz machte darauf aufmerksam, dass ein Geschwisternachzug, der nicht mehr von Voraussetzungen wie der Sicherung des Lebensunterhalts und ausreichendem Wohnraum abhängig gemacht werde, zu einer Ausweitung des Familienzuzugs führen werde. Im Einzelfall könnten für einen erleichterten Nachzug zwar „sachliche Gründe“ sprechen, doch eine generelle Ausweitung sei mit Blick auf den „Schutz der Sozialsysteme“ nicht zu befürworten. Diese stehe im Übrigen auch der Kontingentlösung entgegen, für die sich der Gesetzgeber entschieden habe.
Klar für eine Erleichterung des Geschwisternachzugs sprach sich wiederum Sophia Eckert vom Verein Save the Children Deutschland aus: Die Schaffung einer bundeseinheitlichen Regelung sei nach grund- und völkerrechtlichen Vorgaben „dringend notwendig“, betonte die Expertin. Nur in wenigen Bundesländern würden die gegenwärtigen Regelungen im Einklang mit dem höherrangigen Recht umgesetzt. Die von den Grünen vorgeschlagene Regelung sei ein „wichtiger Schritt“, um den Geschwisternachzug, der bislang meist am Nachweis von ausreichend Wohnraum oder der Lebensunterhaltssicherung scheitere, zu ermöglichen, so Eckert – auch wenn damit nicht alle Hindernisse ausgeräumt seien. Um den „Geschwisternachzug in allen Konstellationen“ zu ermöglichen, brauche es einen Rechtsanspruch minderjähriger Geschwisterkinder auf Nachzug.
Diese Forderung unterstützte auch Maria Kalin vom Deutschen Anwaltsverein: Der Gesetzentwurf stelle nur ein „Mindestmaß“ des Gebotenen dar, so die Fachanwältin für Migrationsrecht in ihrer schriftlichen Stellungnahme. Sie widersprach in der Anhörung zudem der Darstellung, Eltern würden ihre Kinder als „Ankerkinder“ nutzen und sie den Gefahren einer Flucht verantwortungslos aussetzen. „Würden sie tatsächlich kalkuliert handeln, würden sie einen Erwachsenen schicken. Dann hätte sofort die ganze Familie einen Nachzugsanspruch“, unterstrich die Sachverständige. Sie plädierte zudem für eine „einfache, einheitliche Regelung“ zur Bestimmung der Minderjährigkeit. Diese solle künftig stets an den Zeitpunkt der Asylantragstellung anknüpfen. Die lange Dauer von Asylverfahren dürfe nicht mehr zulasten von Kindern und Jugendlichen gehen, so Kalins Forderung.
Hinsichtlich der Festlegung des Zeitpunkts zur Bestimmung der Minderjährigkeit riet Andreas Dietz, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Augsburg, hingegen zum Abwarten: Sollte der Europäische Gerichtshof einen EU-weit einheitlichen Zeitpunkt für das Nachzugsalter bestimmen, habe dies Auswirkungen auf weitere Normen, sodass ohnehin Anpassungsbedarf bestünde, erklärte der Experte. Grundsätzlich aber sei die Entscheidung über einen erleichterten Geschwisternachzug eine migrationspolitische, keine migrationsrechtliche.
Für eine Beibehaltung der bisherigen rechtlichen Kriterien für den Geschwisternachzug trat Miriam Marnich vom Deutschen Städte- und Gemeindetag ein: Der Zuzug dürfe nicht „voraussetzungslos“ möglich sein. Die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit in den Städten und Gemeinden bleibe trotz sinkender Zuzugszahlen begrenzt, insistierte die Sachverständige. Eine Vielzahl von Kommunen stoße an ihre Grenzen – unter anderem sei „geeigneter, bezahlbarer und dezentraler Wohnraum“ knapp. Die Coronakrise habe viele Städte und Gemeinden in eine prekäre Situation gebracht. Sie hätten bereits genug mit der Integration der bereits „hier Lebenden“ zu tun, sagte die Sachverständige mit Blick auf den „angespannten“ Arbeits- und Ausbildungsmarkt.
Einen Mittelweg zeigte schließlich Philipp Wittmann, Richter am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, auf: Er sah zumindest im Fall von „Eltern mit sehr kleinen, minderjährigen Kindern“, eine Neuregelung, die ihnen einen gemeinsamen Nachzug ermögliche, als verfassungsrechtlich geboten an. Der Schutz von kleinen Kindern habe eine besondere Bedeutung, so argumentierte der Experte, da diese „besonders auf den Schutz und die Fürsorge ihrer Eltern angewiesen und für räumliche Trennungen empfindlich“ seien. Gerade wenn eine Flüchtlingsanerkennung der Eltern absehbar sei, solle ein vorgezogener Geschwisternachzug ermöglicht werden, meinte Wittmann. Die damit verbundenen Mehrbelastungen für den Staat seien „überschaubar“.