Der Europäische Gerichtshof hat am 22.06.2021 zum Aktenzeichen C-872/19 P entschieden, dass für eine Klage gegen eine Verordnung, mit der restriktive Maßnahmen in Bezug auf Venezuela eingeführt werden, Venezuela klagebefugt ist.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 112/2021 vom 22.06.2021 ergibt sich:
Der Gerichtshof hat das Urteil des Gerichts, das zu dem gegenteiligen Ergebnis gelangt war, aufgehoben und die Rechtssache zur Entscheidung über die Begründetheit der Nichtigkeitsklage an das Gericht zurückverwiesen.
Im Hinblick darauf, dass sich in Bezug auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte die Lage in Venezuela verschlechtert hatte, erließ der Rat der Europäischen Union im Jahr 2017 restriktive Maßnahmen gegen Venezuela. Nach den Art. 2, 3, 6 und 7 der Verordnung 2017/2063 (ABl. 2017, L 295, S. 21) war es insbesondere untersagt, an natürliche oder juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen in Venezuela Militärgüter und damit zusammenhängende Technologien, die zur internen Repression verwendet werden können, zu verkaufen oder zu liefern, sowie bestimmte technische Dienstleistungen, Vermittlungsdienste oder Finanzdienstleistungen im Zusammenhang mit der Bereitstellung dieser Güter zu erbringen.
Am 6. Februar 2018 erhob Venezuela eine Klage auf Nichtigerklärung der Verordnung 2017/2063, soweit deren Bestimmungen sie betreffen. Anschließend passte sie ihre Klage an, so dass sie sich auch gegen diejenigen Rechtsakte richtete, mit denen der Rat die erlassenen restriktiven Maßnahmen verlängert hatte, nämlich auf den Beschluss 2018/1656 und die Durchführungsverordnung 2018/1653 (Beschluss (GASP) 2018/1656 des Rates vom 6. November 2018 zur Änderung des Beschlusses (GASP) 2017/2074 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela – ABl. 2018, L 276, S. 10 und Durchführungsverordnung (EU) 2018/1653 des Rates vom 6. November 2018 zur Durchführung der Verordnung (EU) 2017/2063 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela – ABl. 2018, L 276, S. 1). Mit Urteil vom 20. September 2019 hat das Gericht der Europäischen Union diese Klage mit der Begründung als unzulässig abgewiesen, dass die Rechtsstellung von Venezuela von den streitigen Bestimmungen nicht unmittelbar betroffen werde (EuG, Urt. v. 20.09.2019 – T-65/18 „Venezuela/Rat“).
Der mit einem Rechtsmittel Venezuelas befasste Gerichtshof hat darüber befunden, wie bei einer Nichtigkeitsklage eines Drittstaats gegen restriktive Maßnahmen, die der Rat angesichts der Lage in diesem Staat erlassen hat, die Zulässigkeitskriterien anzuwenden sind, die Art. 263 Abs. 4 AEUV vorsieht. Der Gerichtshof hat das Urteil des Gerichts aufgehoben, soweit mit diesem die Klage Venezuelas auf Nichtigerklärung der Art. 2, 3, 6 und 7 der Verordnung 2017/2063 abgewiesen worden war, und die Rechtssache an das Gericht zur Entscheidung über die Begründetheit der Klage zurückverwiesen.
Würdigung durch den Gerichtshof
Vorab hat der Gerichtshof festgestellt, dass das Gericht, da das Rechtsmittel Venezuelas nicht denjenigen Teil des angefochtenen Urteils betrifft, mit dem seine Klage auf Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung 2018/1653 und des Beschlusses 2018/1656 als unzulässig abgewiesen wurde, hierüber endgültig entschieden hat. Des Weiteren hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass er nach ständiger Rechtsprechung, gegebenenfalls von Amts wegen, über einen Gesichtspunkt zwingenden Rechts, der auf einen Verstoß gegen die in Art. 263 Abs. 4 AEUV festgelegten Zulässigkeitsvoraussetzungen gestützt ist, entscheiden kann.
Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof von Amts wegen die Frage aufgeworfen, ob Venezuela als eine „juristische Person“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV angesehen werden kann. Insoweit weist er darauf hin, dass aus dieser Bestimmung nicht hervorgeht, dass bestimmte Kategorien von juristischen Personen nicht von der Möglichkeit Gebrauch machen könnten, eine in diesem Artikel vorgesehene Nichtigkeitsklage zu erheben. Des Weiteren ergibt sich auch nicht aus seiner früheren Rechtsprechung, dass der in Art. 263 Abs. 4 AEUV verwendete Begriff „juristische Person“ eng ausgelegt würde. Der Gerichtshof betont sodann, dass sich der Grundsatz, wonach sich die Union namentlich auf den Wert der Rechtsstaatlichkeit gründet, sowohl aus Art. 2 EUV als auch aus Art. 21 EUV ergibt, auf den der die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) betreffende Art. 23 EUV Bezug nimmt. Unter diesen Umständen hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Drittstaat nach Art. 263 Abs. 4 AEUV im Licht der Grundsätze der effektiven gerichtlichen Kontrolle und der Rechtsstaatlichkeit als „juristische Person“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV klagebefugt sein sollte, wenn die weiteren in dieser Bestimmung festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind. Der Gerichtshof stellt insoweit klar, dass für die Verpflichtungen der Union, für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit Sorge zu tragen, keine Gegenseitigkeitsbedingung besteht. Folglich ist Venezuela als über völkerrechtliche Rechtspersönlichkeit verfügender Staat als „juristische Person“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV anzusehen.
Sodann hat der Gerichtshof entschieden, dass dem Gericht ein Rechtsfehler unterlaufen ist, als es die Auffassung vertreten hat, dass sich die fraglichen restriktiven Maßnahmen nicht unmittelbar auf die Rechtsstellung Venezuelas auswirkten. Insoweit stellt der Gerichtshof fest, dass gegen Venezuela die fraglichen restriktiven Maßnahmen ergriffen worden sind. Wirtschaftsbeteiligten der Union zu verbieten, bestimmte Geschäfte zu tätigen, lief nämlich darauf hinaus, es Venezuela zu untersagen, diese Geschäfte mit diesen Wirtschaftsbeteiligten zu tätigen. Des Weiteren hinderten, da das Inkrafttreten der Verordnung 2017/2063 zur Folge hatte, dass die in ihren Art. 2, 3, 6 und 7 festgelegten Verbote unmittelbar und automatisch wirksam geworden sind, diese Verbote Venezuela daran, zahlreiche Waren und Dienstleistungen zu erlangen. Daraus schließt der Gerichtshof, dass diese Bestimmungen sich unmittelbar auf die Rechtsstellung Venezuelas auswirken. Hierbei hebt der Gerichtshof hervor, dass nicht danach zu unterscheiden ist, ob die Geschäfte dieses Staates zu seinem privatwirtschaftlichen Handeln (iure gestionis) gehören oder Handlungen in Ausübung hoheitlicher Befugnisse (iure imperii) darstellen. Ferner stellt er fest, dass die Tatsache, dass die fraglichen restriktiven Maßnahmen kein absolutes Hindernis für Venezuela sind, sich die fraglichen Güter und Dienstleistungen zu verschaffen, insoweit unerheblich ist.
Anschließend hat der Gerichtshof über die Stichhaltigkeit der weiteren Unzulässigkeitsgründe entschieden, die der Rat ursprünglich vor dem Gericht geltend gemacht hatte. Soweit das Rechtsschutzinteresse Venezuelas in Abrede gestellt wird, stellt der Gerichtshof fest, dass, da die in den Art. 2, 3, 6 und 7 der Verordnung 2017/2063 vorgesehenen Verbote geeignet sind, insbesondere die wirtschaftlichen Interessen Venezuelas zu beeinträchtigen, ihre Nichtigerklärung als solche Venezuela einen Vorteil verschaffen kann. In Bezug auf das Vorbringen, dass Venezuela von den streitigen Bestimmungen nicht unmittelbar betroffen sei, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die durch die fraglichen Artikel der Verordnung 2017/2063 aufgestellten Verbote Anwendung finden, ohne den Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, ein Ermessen zu belassen und ohne den Erlass von Durchführungsmaßnahmen erforderlich zu machen. Der Gerichtshof hat, da er bereits festgestellt hat, dass diese Bestimmungen sich auf die Rechtsstellung Venezuelas auswirken, dieses Vorbringen zurückgewiesen.
Schließlich hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Verordnung 2017/1653 einen „Rechtsakt mit Verordnungscharakter“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 dritter Satzteil AEUV darstellt. Da die von Venezuela beanstandeten Bestimmungen dieser Verordnung zudem keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, ist der Gerichtshof zu dem Schluss gelangt, dass dieser Drittstaat auf der Grundlage dieser Vorschrift klagebefugt ist, ohne dass er nachweisen müsste, dass die genannten Artikel ihn individuell betreffen.