Europäischer Haftbefehl nach Aufhebung einer Amnestie wegen Entführung des Sohnes eines ehemaligen slowakischen Präsidenten

17. Juni 2021 -

Generalanwältin Juliane Kokott hat vor dem Europäischen Gerichtshof im Verfahren C-203/20 in ihren Schlussanträgen vom 17.06.2021 zu der Frage Stellung genommen, ob die Einstellung eines Strafverfahrens wegen einer Amnestie trotz der späteren Aufhebung der Amnestie als rechtskräftiger Freispruch anzusehen ist, der die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem auslöst.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 107/2021 vom 17.06.2021 ergibt sich:

Im Jahr 1995 sollen Mitglieder der slowakischen Sicherheitsbehörden mehrere Delikte begangen haben, darunter die Entführung einer Person ins Ausland, Raub und Erpressung. Das Opfer dieser Taten war der Sohn des damaligen Präsidenten der Slowakei. Am 3. März 1998 erließ der damalige Premierminister der Slowakei in Vertretung des Präsidenten, als das Präsidentenamt zu diesem Zeitpunkt nicht besetzt war, für diese Vorwürfe eine Amnestie. Damit wurden die später aufgrund dieser Vorwürfen eröffneten Strafverfahren endgültig eingestellt. Gemäß slowakischem Recht galt die Einstellung der jeweiligen Strafverfahren als ein freisprechendes Urteil. Diese Amnestie hob der Nationalrat der Slowakei am 5. April 2017 auf. Daraufhin wurden die aufgrund der Amnestie eingestellten Strafverfahren erneut eröffnet.

Nunmehr erwägt das Okresný súd Bratislava III (Kreisgericht Bratislava III, Slowakei), für einen der Angeklagten einen Europäischen Haftbefehl auszustellen. Das slowakische Gericht möchte deshalb erfahren, ob der Erlass eines solchen Europäischen Haftbefehls einerseits, und die Aufhebung der Amnestie andererseits mit dem Unionsrecht, und vor allem mit dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl1 und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar sind. Seine Bedenken beruhen insbesondere auf dem Grundsatz ne bis in idem,2 weil die betroffenen Verfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen waren.

In ihren Schlussanträgen vom 17.06.2021 befasst sich Generalanwältin Juliane Kokott erstens mit der Frage, ob die Einstellung eines Strafverfahrens wegen einer Amnestie trotz der späteren Aufhebung der Amnestie als rechtskräftiger Freispruch anzusehen ist, der die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem auslöst. In diesem Zusammenhang erinnert die Generalanwältin daran, dass eine solche rechtskräftige Entscheidung zwei Voraussetzungen erfüllen muss: erstens muss sie die Strafklage endgültig verbrauchen und zweitens muss sie auf einer Prüfung in der Sache beruhen.

Nach Ansicht der Generalanwältin ist die erste Voraussetzung im vorliegenden Fall erfüllt. Die Durchführung der Amnestie hat die fraglichen Strafverfahren rechtskräftig beendet. Im Hinblick auf die zweite Voraussetzung erlauben die Angaben des Vorabentscheidungsersuchens dagegen keine abschließende Beurteilung. Der Begriff Freispruch impliziert, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten im Lichte der Umstände des Falls tatsächlich beurteilt wurde, was bei einer Einstellungsentscheidung aufgrund einer Amnestie in der Regel nicht der Fall ist. Zu der Frage, ob dennoch die strafrechtliche Verantwortlichkeit geprüft wurde, enthält das Vorabentscheidungsersuchen aber widersprüchliche Angaben.

Folglich ist die Generalanwältin der Meinung, dass der Grundsatz ne bis in idem der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls nicht entgegensteht, wenn die Strafsache zunächst ohne Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der betroffenen Person aufgrund einer Amnestie rechtskräftig eingestellt wurde, die Einstellungsentscheidung aber mit der Aufhebung der Amnestie ihre Wirkung verloren hat.

Schließlich ist die Generalanwältin der Auffassung, dass die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Amnestie sowie der damit verbundenen Wiederaufnahme des Strafverfahrens nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.

1 Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) (im Folgenden: Rahmenbeschluss über den EHB).

2 Gemäß diesem Grundsatz darf niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.