Schlussanträge zur Anwendbarkeit des Unionsrechts in Disziplinarverfahren

17. Juni 2021 -

Nach Auffassung von Generalanwalt Bobek vor dem Europäischen Gerichtshof im Verfahren C-55/20 gilt die Dienstleistungsrichtlinie für gegen Rechtsanwälte eingeleitete Disziplinarverfahren, deren Ergebnis die Fähigkeit dieser Rechtsanwälte beeinträchtigen kann, weiterhin Rechtsdienstleistungen zu erbringen. Ein nationales Gericht muss die nationalen Rechtsvorschriften über die Zuständigkeitsverteilung sowie die Entscheidungen eines höheren Gerichts gegebenenfalls außer Acht lassen, wenn es der Auffassung ist, dass sie mit dem Unionsrecht, insbesondere dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, unvereinbar sind, so der Generalanwalt.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 106/2021 vom 17.06.2021 ergibt sich:

Im Juli 2017 beantragte der Prokurator Krajowy – Pierwszy Zastępca Prokuratora Generalnego (Landesstaatsanwalt – Erster Vertreter des Generalstaatsanwalts) (im Folgenden: Staatsanwaltschaft) beim Rzecznik Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinarbeauftragter der Bezirksrechtsanwaltskammer Warschau) (im Folgenden: Disziplinarbeauftragter) die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen R. G., den Rechtsanwalt des ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft erfüllten die Erklärungen dieses Rechtsanwalts, in denen er sich öffentlich zu der Möglichkeit äußerte, seinem Mandanten könnte die Begehung einer Straftat vorgeworfen werden, den Tatbestand einer rechtswidrigen Drohung und seien als ein Disziplinarvergehen einzustufen. Zweimal lehnte der Disziplinarbeauftragte die Einleitung eines solchen Verfahrens ab bzw. beschloss, es nicht fortzuführen. Zweimal hob der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Bezirksrechtsanwaltskammer Warschau) nach einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft bzw. des Justizministers diese Entscheidungen auf und verwies die Sache an den Disziplinarbeauftragten zurück.

Im Rahmen einer dritten „Runde“ dieses Verfahrens, in der das Disziplinargericht der Bezirksrechtsanwaltskammer Warschau (im Folgenden: Disziplinargericht) die Entscheidung des Disziplinarbeauftragten über die abermalige Einstellung der disziplinarischen Ermittlungen gegen diesen Rechtsanwalt zu prüfen hat, nachdem die Staatsanwaltschaft und der Justizminister wiederum Beschwerde eingelegt haben, möchte dieses Gericht wissen, ob die Richtlinie 2006/123/EG (im Folgenden: Dienstleistungsrichtlinie)1 und Art. 472 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) auf das bei ihm anhängige Disziplinarverfahren anwendbar sind.

In seinen Schlussanträgen vom 17.06.2021 prüft Generalanwalt Michal Bobek zunächst, ob es sich bei dem Disziplinargericht um ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV handelt. Er weist darauf hin, dass der Gerichtshof bei der Beurteilung der Frage, ob es sich bei einer vorlegenden Einrichtung um ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV handele, die folgenden Faktoren berücksichtige: gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ihr ständiger Charakter, die obligatorische Gerichtsbarkeit, das streitige Verfahren, die Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie ihre Unabhängigkeit. Der Generalanwalt führt aus, dass das Disziplinargericht durch das polnische Gesetz über die Rechtsanwaltschaft errichtet worden sei, es eine ständige Einrichtung sei, es die Verfahrensregeln anwende, die im Gesetz über die Rechtsanwaltschaft und in der Strafprozessordnung festgelegt seien, und seine Entscheidungen verbindlich und vollstreckbar seien. Darüber hinaus habe das Disziplinargericht offenbar eine durch nationales Recht begründete obligatorische Zuständigkeit für die ihm übertragenen Disziplinarstreitigkeiten. Zudem bestehe kein Zweifel, dass im Ausgangsverfahren ein kontradiktorischer Streit gegeben sei. Desgleichen sei nicht ersichtlich, dass es dem Disziplinargericht an (äußerer oder innerer) Unabhängigkeit fehle und es aus diesem Grund den Gerichtshof nicht im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens anrufen könne. Daher sei das vorlegende Gericht ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV.

Der Generalanwalt prüft sodann, ob die Dienstleistungsrichtlinie auf Disziplinarverfahren gegen Rechtsanwälte anwendbar sei, und kommt zu dem Ergebnis, dass sie Anwendung finde. Ebenso wie die Eintragung bei der Rechtsanwaltskammer zum Zwecke der Ausübung des Anwaltsberufs eine Zulassungsregelung im Sinne dieser Richtlinie darstelle, seien auch Disziplinarverfahren als Teil einer solchen Regelung anzusehen. Er betont, dass die Erbringung von Rechtsberatungsleistungen in den Anwendungsbereich der Richtlinie falle. Zwar sei die anwaltliche Vertretung zweifellos eine besondere Art von Dienstleistung, die aufgrund ihrer Bedeutung für eine ordnungsgemäße Rechtspflege ein streng regulierter Beruf sei, der besonderen berufsethischen Regeln unterliege. Es bleibe aber die Tatsache, dass die Rechtsanwaltstätigkeit eine Dienstleistung im Sinne der Dienstleistungsrichtlinie sei, auch wenn sie besonderen Regeln unterliege. Daher sei auch ein Disziplinarverfahren gegen einen eingetragenen Rechtsanwalt Teil der Genehmigungsregelung, da Anwälte als Ergebnis eines solchen Verfahrens mit der Aussetzung des Rechts auf berufliche Betätigung oder dem Ausschluss belegt werden könnten und zehn Jahre lang nicht erneut eingetragen werden dürften. Solche Maßnahmen stellten einen Widerruf der Genehmigung im Sinne von Art. 10 Abs. 6 der Dienstleistungsrichtlinie dar. Soweit ferner die Dienstleistungsrichtlinie anwendbar sei, sei die Charta, einschließlich Art. 47, im Grundsatz auch auf die Rechtssache anwendbar. Dies bedeute, dass das vorlegende Gericht in dem bei ihm anhängigen Verfahren Art. 47 der Charta anzuwenden habe.

Des Weiteren prüft Generalanwalt Bobek die Befugnisse der nationalen Gerichte bei der Sicherstellung der Einhaltung des Unionsrechts und stellt fest, dass die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung tatsächlich dem Generalstaatsanwalt/Justizminister das Recht auf Einlegung von Rechtsmitteln und indirekt sich selbst die Zuständigkeit für die Verhandlung solcher Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Disziplinarbeauftragten über die Einstellung von Disziplinarverfahren zuerkannt habe. Nach Auffassung des Generalanwalts könnten durch systematische oder wiederholte Beschwerden gegen die Entscheidung, kein Disziplinarverfahren einzuleiten, der Justizminister/Generalstaatsanwalt (oder ein auf dessen Anweisung handelnder Staatsanwalt) tatsächlich die Einleitung eines Disziplinarverfahrens oder dessen (möglicherweise endlose) Fortsetzung gegen bestimmte Mitglieder der Rechtsanwaltskammer durchsetzen. Solche Rechtsmittel würden letztlich von einem Spruchkörper verhandelt werden, der zuvor gerade deshalb für nicht unabhängig befunden worden sei, weil die Exekutive und insbesondere der Justizminister einen unzulässigen Einfluss auf seine Zusammensetzung ausgeübt hätten.

Der Generalanwalt weist darauf hin, dass jede nationale Rechtsvorschrift und jede Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis, die die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen könnte, mit diesem unvereinbar sei. Das Disziplinargericht könne entweder die nationalen Vorschriften unionsrechtskonform auslegen oder gegebenenfalls die nationalen Vorschriften, die es daran hinderten, die Einhaltung mit dem Unionsrecht sicherzustellen, unangewendet lassen. Ebenso müsse das nationale Gericht, was Rechtsauffassungen oder Urteile höherer Gerichte betreffe, gegebenenfalls von Entscheidungen eines höheren Gerichts abweichen, wenn es der Ansicht sei, dass diese nicht mit dem Unionsrecht vereinbar seien. Jedoch könne das Disziplinargericht der Bezirksrechtsanwaltskammer Warschau nicht von sich aus von der Prüfung der derzeit bei ihm anhängigen Rechtssache absehen, um die mögliche spätere Rechtsbeschwerde zur Disziplinarkammer des Obersten Gerichts zu vermeiden. Selbst wenn die „nächste Ebene“ in einer Gerichtshierarchie dem Standard eines wirksamen Rechtsbehelfs nicht mehr gerecht werde, könne Art. 47 der Charta kaum dahin ausgelegt werden, dass er auf die untere Ebene zurückwirke und diese daran hindere, überhaupt eine Entscheidung zu treffen.

Der Generalanwalt räumt schließlich ein, dass Vorabentscheidungsersuchen möglicherweise nicht ideal seien, um mit insgesamt pathologischen Situationen in einem Mitgliedstaat umzugehen, in dem die normalen Regeln des rechtlichen Zusammenwirkens und des ordnungsgemäßen Umgangs miteinander außer Kraft geraten zu sein schienen. Vertragsverletzungsverfahren seien nach wie vor das geeignetere Mittel, um institutionelle Streitigkeiten in einem Kontext beizulegen, in dem ein oder mehrere Akteure sich weigerten, den Urteilen des Gerichtshofs zu folgen.

1 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36).

2 In dem das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht festgelegt werden.