Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 05. Mai 2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 2023/20 entschieden, dass eine Verurteilung wegen Betruges nicht verfassungswidrig ist.
Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen die rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung der Beschwerdeführer wegen mehrerer Betrugstaten.
Nach den landgerichtlichen Feststellungen hatte der Beschwerdeführer zu 1, ein Arzt, gemeinsam mit dem Beschwerdeführer zu 2, einem Apotheker, ein Medizinisches Versorgungszentrum (im Folgenden: MVZ) betrieben, obwohl sich der Beschwerdeführer zu 2 gemäß § 95 Abs. 1a SGB V nicht an einem solchen Zentrum als Gesellschafter beteiligen durfte. Um diesen Umstand gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung (im Folgenden: KV) zu verdecken, setzten die Beschwerdeführer einen weiteren Arzt als „Strohmann“ ein, der für den Beschwerdeführer zu 2 als Gesellschafter auftrat. Obwohl die Beschwerdeführer um die Unzulässigkeit dieses Vorgehens wussten, rechneten sie ärztliche Leistungen sowie über die Apotheke des Beschwerdeführers zu 2 auf Verordnung der Ärzte des MVZ abgegebene Arzneimittel gegenüber der örtlichen KV und einer Krankenkasse ab, ohne die Beteiligung des Beschwerdeführers zu 2 an dem MVZ offenzulegen.
Der Bundesgerichtshof bestätigte die Verurteilung der Beschwerdeführer durch das Landgericht dem Grunde nach und führte zur Frage des der KV und der Krankenkasse entstandenen Vermögensschadens aus, deren täuschungsbedingten Zahlungen stehe keine Kompensation gegenüber. Denn ein Vergütungsanspruch habe wegen des Verstoßes gegen § 95 Abs. 1a SGB V nicht bestanden, sodass die Zahlenden durch ihre Leistung nicht von einer Verbindlichkeit befreit worden seien. Auf die im Übrigen ordnungsgemäßen ärztlichen Leistungen sowie die Abgabe der Medikamente komme es hingegen nicht an, da sie kein unmittelbar aus der Vermögensverfügung resultierendes Äquivalent seien.
Die Beschwerdeführer rügen einen Verstoß gegen das in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltene Verschleifungsverbot durch die Annahme eines Vermögensschadens.
Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Bedeutung dieser Verfassungsnorm erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 Abs. 2 GG enthält für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie. Dabei ist „Analogie“ nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die – tatbestandsausweitend – über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht, wobei der mögliche Wortlaut als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen ist.
Dementsprechend darf die Auslegung der Begriffe, mit denen der Gesetzgeber das unter Strafe gestellte Verhalten bezeichnet hat, nicht dazu führen, dass die dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird. Einzelne Tatbestandsmerkmale dürfen also auch innerhalb ihres möglichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden (Verschleifung oder Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen).
Für den Betrugstatbestand bedeutet dies, dass das Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens die Strafbarkeit begrenzt und § 263 Abs. 1 StGB als Vermögens- und Erfolgsdelikt kennzeichnet. Verlustwahrscheinlichkeiten dürfen daher nicht so diffus sein oder sich in so niedrigen Bereichen bewegen, dass der Eintritt eines realen Schadens ungewiss bleibt. Die bloße Möglichkeit eines solchen Schadens genügt daher nicht. Zur Verhinderung der Tatbestandsüberdehnung muss, von einfach gelagerten und eindeutigen Fällen – etwa bei einem ohne Weiteres greifbaren Mindestschaden – abgesehen, der Vermögensschaden der Höhe nach beziffert und dies in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen dargelegt werden. Bestehen Unsicherheiten, so kann ein Mindestschaden im Wege einer tragfähigen Schätzung ermittelt werden. Normative Gesichtspunkte können bei der Bewertung von Schäden eine Rolle spielen; sie dürfen die wirtschaftliche Betrachtung allerdings nicht überlagern oder verdrängen.
Die angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen verstoßen nicht gegen das in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltene Entgrenzungsverbot.
Es besteht keine Gefahr der Verschleifung von Täuschungshandlung und Schaden. Dies ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass als wesentlicher Zwischenschritt für die Entstehung des Vermögensschadens noch die irrtums-bedingte Auszahlung durch die Mitarbeiter der Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen erforderlich ist.
Eine Entgrenzung des Betrugstatbestandes liegt auch im Übrigen nicht vor. Der Bundesgerichtshof legt trennscharf die Verwirklichung der einzelnen Tatbestandsmerkmale dar und hat der Schadensbetrachtung ersichtlich eine wirtschaftliche Sichtweise zugrunde gelegt. Dass für die wirtschaftliche Bewertung eines Zahlungsvorganges auch die sozial- und zivilrechtlichen Rahmenbedingungen maßgeblich sind, stellt kein Spezifikum der kassenärztlichen Abrechnung dar, sondern spiegelt lediglich wieder, dass erst die Anerkennung einer Forderung durch die Rechtsordnung dieser in einem Rechtsstaat wirtschaftlichen Wert verleiht. Anders als im Falle der Ausreichung von Darlehen oder des Abschlusses von Versicherungsverträgen hatte der Bundesgerichtshof im vorliegenden Fall nicht den wirtschaftlichen Wert der Gegenleistung in einem Vertragsverhältnis zu beurteilen, sondern allein die Frage, ob die Forderungen, auf die gezahlt wurde, tatsächlich bestanden. Schwierigkeiten bei der grundsätzlich im Bereich der Vermögensdelikte erforderlichen genauen Bezifferung des entstandenen Schadens ergeben sich hieraus nicht.
Eine verfassungsrechtlich unzulässige Entgrenzung ergibt sich schließlich nicht daraus, dass § 95 Abs. 1a SGB V keine an sich vermögensschützende Norm darstellt. Denn Gegenstand des strafrechtlichen Betrugsvorwurfs ist nicht der Verstoß gegen diese Vorschrift, sondern die wahrheitswidrige Abrechnung trotz sozialrechtlich nicht bestehenden Vergütungsanspruchs. Soweit Kassenärztliche Vereinigungen oder Krankenkassen auf solche Abrechnungen irrtumsbedingt zahlen, sind sie wirtschaftlich geschädigt.