Der Europäische Gerichtshof hat am 04.06.2021 zum Aktenzeichen C-650/18 die Klage Ungarns abgewiesen, die sich gegen die Entschließung des Parlaments richtet, mit der das Verfahren eingeleitet wird, um festzustellen, dass eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte der Union durch Ungarn besteht.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 93/2021 vom 03.06.2021 ergibt sich:
Bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses im Zusammenhang mit der Annahme dieser Entschließung hat das Parlament die Enthaltungen zu Recht unberücksichtigt gelassen.
Am 12. September 2018 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung 2017/2131(INL) (ABl. 2019, C 433, S. 66) zu einem Vorschlag an, mit dem der Rat der Europäischen Union aufgefordert wurde, im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 EUV (Art. 7 Art. 1 EUV sieht vor: „Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht. Der Rat hört, bevor er eine solche Feststellung trifft, den betroffenen Mitgliedstaat und kann Empfehlungen an ihn richten, die er nach demselben Verfahren beschließt. Der Rat überprüft regelmäßig, ob die Gründe, die zu dieser Feststellung geführt haben, noch zutreffen.“) festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der gemeinsamen Werte, auf die sich die Union gründe, durch Ungarn bestehe. Diese Erklärung leitete das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren ein, das zur Aussetzung bestimmter mit der Zugehörigkeit zur Union verbundener Rechte des betroffenen Mitgliedstaats führen kann.
Nach Art. 354 Abs. 4 AEUV, der die Abstimmungsmodalitäten für die Anwendung von Art. 7 EUV festlegt, erforderte die Annahme der in Rede stehenden Entschließung durch das Parlament die Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und die der Mehrheit seiner Mitglieder. In Anwendung seiner Geschäftsordnung, die vorsieht, dass für die Annahme oder Ablehnung eines Textes nur die abgegebenen Ja- und die Nein-Stimmen berücksichtigt werden, ausgenommen in den Fällen, für die in den Verträgen eine spezifische Mehrheit vorgesehen ist (Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Parlaments), hat das Parlament bei der Stimmenauszählung in Bezug auf die in Rede stehende Entschließung nur die Ja- und Nein-Stimmen seiner Mitglieder berücksichtigt und die Enthaltungen ausgeschlossen (die Entschließung wurde mit 448 Ja- und 197 Nein-Stimmen sowie den Enthaltungen von 48 anwesenden Mitgliedern angenommen).
Da Ungarn der Ansicht war, dass das Parlament bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses die Enthaltungen hätte berücksichtigen müssen, erhob Ungarn gemäß Art. 263 AEUV Klage auf Nichtigerklärung dieser Entschließung.
Die Große Kammer des Gerichtshofs weist diese Klage ab. Sie stellt erstens fest, dass die angefochtene Entschließung Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle nach Art. 263 AEUV sein kann. Zweitens sind die Enthaltungen von Abgeordneten nicht für die Feststellung zu zählen, ob die in Art. 354 AEUV genannte Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen erreicht ist.
Würdigung durch den Gerichtshof
Der Gerichtshof äußert sich erstens vorab zu seiner Zuständigkeit für die Entscheidung über die vorliegende Klage und dann zur Zulässigkeit dieser Klage.
Zunächst stellt er fest, dass Art. 269 AEUV, der eine begrenzte Möglichkeit vorsieht, eine Nichtigkeitsklage gegen Handlungen des Europäischen Rates oder des Rates im Rahmen des Verfahrens nach Art. 7 EUV zu erheben, die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung über die vorliegende Klage nicht ausschließt. Indem Art. 269 AEUV dieses Klagerecht strengeren Voraussetzungen unterwirft als Art. 263 AEUV, enthält er nämlich eine Begrenzung der allgemeinen Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Unionsorgane und ist daher eng auszulegen. Außerdem werden die nach Art. 7 Abs. 1 EUV angenommenen Entschließungen des Parlaments in Art. 269 AEUV nicht erwähnt. Somit wollten die Verfasser der Verträge eine Handlung wie die angefochtene Entschließung nicht von der allgemeinen Zuständigkeit ausnehmen, die dem Gerichtshof der Europäischen Union durch Art. 263 AEUV zuerkannt wird. Eine solche Auslegung kann im Übrigen zur Beachtung des Grundsatzes beitragen, nach dem die Europäische Union eine Rechtsunion ist, mit der ein umfassendes System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen worden ist, das dem Gerichtshof der Europäischen Union die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Unionsorgane zuweist.
Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass die angefochtene Entschließung eine anfechtbare Handlung darstellt. Sie erzeugt nämlich ab ihrer Annahme verbindliche Rechtswirkungen, da sie, solange sich der Rat nicht zu den insoweit zu treffenden Folgemaßnahmen geäußert hat, unmittelbar bewirkt, dass das für die Mitgliedstaaten geltende Verbot entfällt, einen von einem ungarischen Staatsangehörigen gestellten Asylantrag zu berücksichtigen oder zur Bearbeitung zuzulassen (nach Buchst. b des Einzigen Artikels des Protokolls (Nr. 24) über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union – ABl. 2010, C 83, S. 305).
Außerdem stellt die angefochtene Entschließung keine Zwischenmaßnahme dar, deren Rechtmäßigkeit nur im Rahmen eines Rechtsstreits über die endgültige Entscheidung, deren Vorbereitung sie dient, in Abrede gestellt werden kann. Zum einen hat nämlich das Parlament mit der Annahme dieser Entschließung keinen vorläufigen Standpunkt ausgedrückt, auch wenn die spätere Feststellung durch den Rat, dass eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte der Union durch einen Mitgliedstaat bestehe, noch von der vorherigen Zustimmung des Parlaments abhängt. Zum anderen erzeugt die in Rede stehende Entschließung eigenständige Rechtswirkungen, da, auch wenn der betreffende Mitgliedstaat die Rechtswidrigkeit dieser Entschließung geltend machen kann, um hierauf seine etwaige Nichtigkeitsklage gegen die spätere Feststellung des Rates zu stützen, der etwaige Erfolg dieser Klage es jedenfalls nicht ermöglichen würde, sämtliche verbindlichen Rechtswirkungen dieser Entschließung zu beseitigen.
Der Gerichtshof betont jedoch, dass gewisse in Art. 269 AEUV vorgesehene besondere Voraussetzungen, denen die Erhebung einer Nichtigkeitsklage gegen diejenige Feststellung des Rates unterliegt, die im Anschluss an einen begründeten Vorschlag des Parlaments wie die angefochtene Entschließung ergehen kann, auch für eine Nichtigkeitsklage gelten müssen, die nach Art. 263 AEUV gegen einen solchen begründeten Vorschlag gerichtet ist, da Art. 269 AEUV sonst seine praktische Wirksamkeit genommen würde. Diese Klage kann daher nur vom von dem begründeten Vorschlag betroffenen Mitgliedstaat erhoben werden, und die Nichtigkeitsgründe, auf die eine solche Klage gestützt wird, können nur aus der Verletzung der in Art. 7 EUV genannten Verfahrensbestimmungen hergeleitet werden.
Zweitens stellt der Gerichtshof zur Begründetheit fest, dass der Begriff „abgegebene Stimmen“ in Art. 354 Abs. 4 AEUV in den Verträgen nicht definiert ist und dass dieser autonome Begriff des Unionsrechts entsprechend seinem üblichen Sinn im gewöhnlichen Sprachgebrauch auszulegen ist. Dieser Begriff umfasst in seinem üblichen Sinn jedoch nur die Äußerung eines befürwortenden oder ablehnenden Votums über einen bestimmten Vorschlag, während die als Weigerung, Stellung zu beziehen, verstandene Enthaltung nicht mit einer „abgegebenen Stimme“ gleichgestellt werden kann. Daher ist die in Art. 354 Abs. 4 AEUV vorgesehene Regel, die eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen vorschreibt, so zu verstehen, dass sie die Berücksichtigung von Enthaltungen ausschließt.
Nach einem Hinweis darauf, dass die Mehrheitsregel des Art. 354 Abs. 4 AEUV zwei Erfordernisse umfasst, nämlich dass die vom Parlament nach Art. 7 Abs. 1 EUV angenommenen Rechtsakte zum einen der Zustimmung von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und zum anderen der Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments bedürfen, stellt der Gerichtshof fest, dass die Enthaltungen in jedem Fall für die Prüfung, ob die Ja-Stimmen die Mehrheit der Mitglieder des Parlaments abbilden, berücksichtigt werden.
Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass der Ausschluss von Enthaltungen bei der Auszählung der abgegebenen Stimmen im Sinne von Art. 354 Abs. 4 AEUV weder gegen das Demokratieprinzip noch gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt, insbesondere weil die Mitglieder des Parlaments, die sich bei der Abstimmung der Stimme enthielten, in Kenntnis der Sachlage handelten, da sie im Voraus über die Nichteinbeziehung von Enthaltungen in die Berechnung des Abstimmungsergebnisses informiert worden waren. HINWEIS: Eine Nichtigkeitsklage dient dazu, unionsrechtswidrige Handlungen der Unionsorgane für nichtig erklären zu lassen. Sie kann unter bestimmten Voraussetzungen von Mitgliedstaaten, Organen der Union oder Einzelnen beim Gerichtshof oder beim Gericht erhoben werden. Ist die Klage begründet, wird die Handlung für nichtig erklärt. Das betreffende Organ hat eine durch die Nichtigerklärung der Handlung etwa entstehende Regelungslücke zu schließen.