Das Landessozialgericht Baden-Württemberg in Stuttgart hat mit Urteil vom 18.05.2021 zum Aktenzeichen L 6 VG 1518/20 entschieden, dass ein Opfer des Banküberfalls von Siegelsbach eine weitere Opferentschädigung in Form von Berufsschadensausgleich erhält.
Aus der Pressemitteilung des LSG BW vom 25.05.2021 ergibt sich:
Der heute 46jährige Bankangestellte O ist gelernter Bankkaufmann. Berufsbegleitend zu seiner Tätigkeit als stellvertretender Filialleiter schloss er im April 2004 erfolgreich seine Prüfung zum IHK-Wirtschaftsinformatiker ab. Im Oktober 2004 wurde er mit 29 Jahren Opfer eines Banküberfalls. Der Täter, ein dem O bekannter Bäckermeister, ging davon aus, dass dieser am Nachmittag alleine in der Bank sein werde und hatte sich entschlossen, dem O unmaskiert gegenüber zu treten und ihn zu töten. Er passte O nach der Mittagspause ab, folgte ihm in die Bank und zwang ihn mit am Kopf des O gehaltener Pistole, den Tresor zu öffnen. Um sich die Beute von rund 33.000 € zu sichern und den Tatzeugen zu beseitigen, zwang er den O, sich hinzuknien und schlug ihm mit der Unterseite des Pistolengriffs 12mal mit voller Wucht auf den Kopf, bis dieser schließlich mit einer handtellergroßen Trümmerfraktur des Schädels sowie weiteren Brüchen im Augenbereich stark blutend zusammensackte. O wurde durch Notoperationen gerettet. Neben mehreren Rehaaufenthalten erfolgte ab Oktober 2005 in Teilzeit zu 50% die Wiedereingliederung auf einem Arbeitsplatz im Electronic-Banking mit Telefonhotline. Im Februar 2008 war ein erneuter Arbeitsplatzwechsel erforderlich, nachdem O den Anforderungen an diese Tätigkeit nicht gewachsen war und es deswegen zunehmend zu Kundenbeschwerden kam. Seit September 2008 ist die Arbeitszeit auf 40 % reduziert. Vom zuständigen Unfallversicherungsträger bezieht O eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 60 v. H.
In der Folgezeit stellte das Land Baden-Württemberg einen Grad der Schädigung (GdS) von 60 ab Mai 2005 sowie von 70 ab April 2017 fest. Berufsschadensausgleich stehe dem O erst ab April 2017 zu, weil medizinische und berufliche Rehabilitationsmaßnahmen erst ab diesem Zeitpunkt nicht mehr erfolgversprechend und zumutbar gewesen seien.
O klagte auf Gewährung von höherem und früherem Berufsschadensausgleich: Aufgrund der Folgen der Straftat könne er nicht mehr als Wirtschaftsinformatiker arbeiten; der dadurch entstandene wirtschaftliche Schaden sei daher auszugleichen. Das Sozialgericht Mannheim wies die Klage ab, weil Rehabilitationsmaßnahmen bis März 2017 noch erfolgversprechend gewesen wären und O lediglich als Bankkaufmann und nicht entsprechend seiner IHK-Ausbildung als Wirtschaftsinformatiker gearbeitet habe (Gerichtsbescheid vom 15.04.2020).
Die Berufung des O war weitgehend erfolgreich. Mit Urteil vom 18.05.2021 hat der 6. Senat des LSG Stuttgart das beklagte Land Baden-Württemberg verurteilt, ihm höheren Berufsschadensausgleich bereits ab September 2006 zu gewähren.
Denn er könne schadensbedingt aufgrund seiner kognitiven Einschränkungen seine vor dem schädigenden Ereignis ausgeübte Vollzeittätigkeit als Bankkaufmann mit der Qualifikation als Wirtschaftsinformatiker nicht mehr nachgehen. Sein Leistungsvermögen sei bereits nach der letzten stationären Rehabilitationsmaßnahme im Frühjahr 2006 dahingehend gesunken, dass ihm nur noch eine Tätigkeit von maximal 3 Stunden täglich mit geringerer geistiger und körperlicher Beanspruchung möglich sei. Zwar entstehe nach dem Grundsatz „Reha vor Rente“ ein Anspruch auf Berufsschadensausgleich frühestens in dem Monat, in dem zumutbare und erfolgversprechende Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgeschlossen seien. Das beklagte Land gehe bei seiner Ablehnung des Leistungsanspruchs für den Zeitraum vor April 2017 aber zu Unrecht davon aus, dass O durch weitere Rehabilitationsmaßnahmen voraussichtlich wieder in Vollzeit hätte arbeiten können. Tatsächlich habe O durch die massive Gewalteinwirkung auf den Kopf derart bleibende Schäden davongetragen, dass die Wiedereingliederung nur auf einem Teilzeitarbeitsplatz gelungen sei. Denn er benötige schädigungsbedingt klare Strukturen und definierte Abläufe, die er Stück für Stück und ohne Zeitdruck bearbeiten könne. Kundenkontakt komme nicht mehr in Betracht, da es O überfordere, unvorbereitet mit möglichen Fragen und komplexen Sachverhalten konfrontiert zu werden. Dass der Täter zunächst freigesprochen worden sei, habe O zusätzlich traumatisiert. Das beklagte Land habe zudem nicht ansatzweise dargelegt, welche konkreten Rehabilitationsleistungen mit welchem Ziel O noch hätte erbringen können. Dem O stehe auch ein höherer Berufsschadensausgleich zu, weil er ohne das schädigende Ereignis durch den IHK-Abschluss als Wirtschaftsinformatiker eine Entlohnung vergleichbar der Besoldungsgruppe A 9 des gehobenen Dienstes hätte erreichen können. Ein von O geforderter noch höherer Berufsschadensausgleich sei nicht zu gewähren. Denn soweit dieser darauf verweise, einen Abschluss als studierter Dipl.-Wirtschaftsinformatiker angestrebt zu haben, habe er nach der erfolgreichen IHK-Prüfung als Wirtschaftsinformatiker seine vorherige Tätigkeit als stellvertretender Filialleiter in Vollzeit fortgesetzt, ohne eine Absicht für ein Studium erkennen zu lassen.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig: O kann die Nichtzulassung der Revision noch vor dem Bundesozialgericht anfechten.