Generalanwalt Bobek ist im Verfahren C-748/19, C-749/19, C-750/19, C-751/19, C-752/19, C-753/19 und C-754/19 der Auffassung, dass das Unionsrecht der in Polen praktizierten Abordnung von Richterinnen und Richtern an höhere Gerichte, die jederzeit nach dem Ermessen des Justizministers, der gleichzeitig auch der Generalstaatsanwalt ist, beendet werden kann, entgegensteht.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 88/2021 vom 20.05.2021 ergibt sich:
Im Zusammenhang mit sieben bei ihm anhängigen Strafverfahren hat der Sąd Okręgowy w Warszawie (Bezirksgericht Warschau, Polen) beschlossen, den Gerichtshof um Hinweise zu der Frage zu ersuchen, ob bestimmte Vorschriften des nationalen Rechts, nach denen der Justizminister/Generalstaatsanwalt befugt ist, Richter an höhere Gerichte abzuordnen und nach seinem freien Ermessen diese Abordnung jederzeit zu beenden, mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Insbesondere ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass diese Vorschriften gegen die Anforderungen an die Unabhängigkeit der nationalen Gerichtsbarkeit gemäß Art. 19 Abs. 1 EUV1 in Verbindung mit Art. 2 EUV2 verstoßen könnten.
Das vorlegende Gericht weist im Einzelnen darauf hin, dass jeder der gerichtlichen Spruchkörper, die für die Entscheidung der jeweiligen Rechtssache in den Ausgangsverfahren bestimmt sind, aus der vorlegenden Richterin als Vorsitzende und zwei weiteren Richtern zusammengesetzt sei. In jeder der Rechtssachen sei einer der „weiteren“ Richter durch Entscheidung des Justizministers/Generalstaatsanwalts von einem nachgeordneten Gericht abgeordnet worden (im Folgenden: abgeordnete Richter). Außerdem hätten einige der abgeordneten Richter auch die Funktion eines „Disziplinarbeauftragten“ beim Rzecznik Dyscyplinarny Sędziów Sądów Powszechnych (Disziplinarbeauftragter für Richter ordentlicher Gerichte) inne.
In seinen Schlussanträgen vom 20.05.2021 weist Generalanwalt Michal Bobek zunächst das Vorbringen zurück, dass die Vorabentscheidungsersuchen unzulässig seien, weil sie von einer Einzelrichterin – der Vorsitzenden der mit den in Rede stehenden Strafsachen befassten gerichtlichen Spruchkörper – und nicht vom Spruchkörper selbst eingereicht worden seien. Wenn das Vorabentscheidungsersuchen von einem nationalen Gericht eingereicht werde, das als Rechtsprechungsorgan handele, sei es nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, die Einhaltung aller Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts zu überprüfen. Daher handele es sich beim vorlegenden Gericht um ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV.
Danach prüft der Generalanwalt, ob das Unionsrecht3 nationalen Vorschriften entgegensteht, wonach der Justizminister/Generalstaatsanwalt auf der Grundlage nicht veröffentlichter Kriterien Richter für einen unbestimmten Zeitraum an höhere Gerichte abordnen kann. Er weist darauf hin, dass der Begriff der richterlichen Unabhängigkeit zwei Aspekte hat: einen äußeren und einen inneren. Der äußere Aspekt (oder die Unabhängigkeit im engeren Sinne) erfordert, dass das Gericht vor Eingriffen oder Druck von außen, die das unabhängige Urteil seiner Mitglieder in Bezug auf die bei ihm anhängigen Verfahren gefährden könnten, geschützt werden muss. Der innere Aspekt bezieht sich auf die Unparteilichkeit und soll gleiche Bedingungen für die Verfahrensbeteiligten und ihre jeweiligen Interessen in Bezug auf den Gegenstand des Verfahrens gewährleisten. Dieser Aspekt erfordert Objektivität und das Fehlen jeglichen Interesses am Ausgang des Verfahrens, abgesehen von der strikten Beachtung der Rechtsstaatlichkeit. Die im vorliegenden Fall in Rede stehenden nationalen Maßnahmen hält er im Hinblick auf beide Aspekte der Unabhängigkeit für äußerst problematisch.
Weiter führt Generalanwalt Bobek aus, dass nichts im Unionsrecht die Mitgliedstaaten daran hindere, auf ein System zurückzugreifen, nach dem Richter im dienstlichen Interesse vorübergehend von einem Gericht an ein anderes abgeordnet werden können. In Systemen, in denen das Justizministerium für die Judikative betreffende Organisations- und Personalangelegenheiten zuständig ist, gehörten Entscheidungen über die Abordnung einzelner Richter wohl zur Zuständigkeit des Ministers. Würden die gesetzlichen Verfahren eingehalten, seien alle nach nationalem Recht erforderlichen Zustimmungen erteilt worden und gälten die üblichen Vorschriften für die Ernennung, Amtszeit und Abberufung von Richtern während der Abordnung weiterhin, sei auch dieser Aspekt an sich unproblematisch. Dies sei jedoch nach den fraglichen nationalen Vorschriften offensichtlich nicht der Fall. Die abgeordneten Richter unterlägen in mehrerlei Hinsicht nicht den üblichen Regeln, sondern einer ganz besonderen – und sehr beunruhigenden – rechtlichen Regelung.
Der Generalanwalt ist der Auffassung, dass in einem rechtsstaatlichen System zumindest eine gewisse Transparenz und Rechenschaftspflicht bei Entscheidungen über die Abordnung von Richtern gegeben sein müsse. Insbesondere sollten Entscheidungen im Zusammenhang mit der Abordnung eines Richters (Beginn oder Beendigung) auf der Grundlage von im Voraus bekannten Kriterien getroffen und ordnungsgemäß begründet werden. Zudem müssten sie, um eine gewisse Kontrolle zu gewährleisten, ein Mindestmaß an Klarheit in Bezug auf die Frage bieten können, warum und in welcher Weise eine bestimmte Entscheidung getroffen worden sei. Dies sei aber bei den fraglichen nationalen Maßnahmen nicht erkennbar. Die vom Justizminister/Generalstaatsanwalt bei der Abordnung von Richtern und der Beendigung ihrer Abordnung angewandten Kriterien, sofern es sie überhaupt gebe, würden jedenfalls nicht öffentlich gemacht.
Auch die Tatsache, dass die Abordnung auf unbestimmte Zeit erfolgt und jederzeit nach dem Ermessen des Justizministers/Generalstaatsanwalts beendet werden kann, gibt Anlass zu großer Besorgnis. Generalanwalt Bobek ist der Meinung, dass eine (richterliche) Abordnung normalerweise für einen festen Zeitraum erfolgen sollte, der in Form einer bestimmten Dauer oder bis zu einem anderen objektiv feststellbaren Ereignis festgelegt wird. Daher gehe die Ausübung eines uneingeschränkten, nicht überprüfbaren und nicht transparenten Ermessens, das dem Justizminister/Generalstaatsanwalt gestattet, Richter abzuordnen und sie jederzeit nach eigenem Ermessen abzuberufen, weit über das hinaus, was als angemessen und notwendig angesehen werden könne, um das reibungslose Funktionieren und den Arbeitsablauf innerhalb der nationalen Gerichtsstruktur zu gewährleisten.
Nach Auffassung des Generalanwalts wird nicht nur die Befugnis zur Ausübung dieses uneingeschränkten Ermessens einem Mitglied der Regierung zugewiesen, sondern dieses Mitglied der Regierung hat dabei auch gleichzeitig eine „Doppelfunktion“ inne. In seiner Eigenschaft als Generalstaatsanwalt ist der Justizminister die oberste staatsanwaltschaftliche Instanz innerhalb des Mitgliedstaats und hat Weisungsbefugnis über alle Staatsanwaltschaften. Das nationale Recht räumt ihm u. a. die Befugnis ein, durch einen nachgeordneten Staatsanwalt Anordnungen „zum Inhalt einer gerichtlichen Maßnahme“ zu erlassen, denen dieser Folge zu leisten hat. Dies führe zu einer „unheiligen“ Allianz zwischen zwei institutionellen Gremien, die normalerweise getrennt voneinander agieren sollten. Insbesondere die Abordnung von Richtern erlaube dem hierarchischen Vorgesetzten eines am Strafverfahren Beteiligten (dem [General-]Staatsanwalt) tatsächlich, den Spruchkörper (oder einen Teil desselben), der die von den ihm unterstehenden Staatsanwälten eingeleiteten Verfahren verhandeln wird, zusammenzustellen. Infolgedessen werden manche Richter einen Anreiz verspüren, im Sinne des Staatsanwalts oder, allgemeiner, nach dem Wunsch des Justizministers/Generalstaatsanwalts zu entscheiden. Die Möglichkeit, durch eine Abordnung an ein höheres Gericht belohnt zu werden, könnte für Richter der unteren Instanzen nämlich eine Versuchung darstellen, weil sie ihnen bessere Karriereaussichten und ein höheres Gehalt böte. Umgekehrt könnten abgeordnete Richter davon abgehalten werden, unabhängig zu handeln, um das Risiko zu vermeiden, dass der Justizminister/Generalstaatsanwalt ihre Abordnung beendet.
Schließlich wird gemäß dem Generalanwalt die oben beschriebene Situation zusätzlich dadurch verschlimmert, dass die abgeordneten Richter auch die Stellung von Disziplinarbeauftragten beim Rzecznik Dyscyplinarny Sędziów Sądów Powszechnych (Disziplinarbeauftragter für die Richter ordentlicher Gericht) bekleiden können. Die Annahme, dass Richter sich scheuen, Kollegen zu widersprechen, die irgendwann ein Disziplinarverfahren gegen sie anstrengen könnten, ist sicherlich nicht weit hergeholt. Darüber hinaus können solche Personen in struktureller Hinsicht aufgrund des Kontextes und der Rahmenbedingungen für ihre Abordnung sehr wohl als eine „diffuse Kontrolle und Aufsicht“ innerhalb der gerichtlichen Spruchkörper und der Gerichte, an die sie abgeordnet wurden, wahrgenommen werden. Daher führen die fraglichen nationalen Bestimmungen zum einen zu einem ziemlich besorgniserregenden Netzwerk von Verbindungen zwischen den abgeordneten Richtern, den Staatsanwälten und (einem Mitglied) der Regierung und zum anderen zu einer ungesunden Rollenvermischung zwischen Richtern, normalen Staatsanwälten und Disziplinarbeauftragten. Zuletzt betont der Generalanwalt, dass es aus unionsrechtlicher Sicht überhaupt kein Problem mit der Abordnung von Richtern an sich gibt, solange diese Richter während ihrer Abordnung innerhalb der nationalen Gerichtsstrukturen die gleichen Garantien in Bezug auf Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit genießen wie alle anderen Richter innerhalb dieses Gerichts. In den vorliegenden Rechtssachen ist dies jedoch eindeutig nicht der Fall.
Der Generalanwalt kommt zu dem Ergebnis, dass unter Umständen wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Mindestgarantien, die zur Gewährleistung der unverzichtbaren Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative erforderlich sind, nicht mehr gegeben sind. Die fraglichen nationalen Vorschriften bieten keine ausreichenden Garantien, um bei den Einzelnen, insbesondere bei denjenigen, gegen die Strafverfahren eingeleitet wurden, das begründete Vertrauen zu wecken, dass die Richter des Spruchkörpers keinem Druck von außen und keiner politischen Einflussnahme ausgesetzt sind und kein Eigeninteresse am Ausgang des Verfahrens haben. Er schlägt dem Gerichtshof daher vor, die Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass die in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV4 unvereinbar sind.
1 „… Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“
2 Diese Bestimmung sieht u. a. vor, dass die Werte, auf die sich die Union gründet, die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen sind, die Minderheiten angehören.
3 Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und der darin verankerte Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit.
4 Der Generalanwalt halt es nicht für notwendig, auf die Gründe einzugehen, aus denen die fraglichen nationalen Bestimmungen auch gegen die Bestimmungen der Richtlinie 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) verstoßen. Im Zusammenhang mit einem derart schwerwiegenden Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 EUV sieht er nur einen geringen Mehrwert in einer weiteren Erörterung der Frage, ob die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und Beschuldigten weiterhin bei der Staatsanwaltschaft liegt oder im Zweifel tatsächlich zugunsten der Verdächtigen oder Beschuldigten entschieden würde. Der Kern des Prinzips der Unschuldsvermutung werde untergraben, wenn ein und dieselbe Person – der Justizminister/Generalstaatsanwalt – in Strafsachen Einfluss sowohl auf die Staatsanwälte als auch auf bestimmte Richter des Spruchkörpers ausüben könne. Folglich sei ein gleichzeitiger Verstoß gegen die Bestimmungen der Richtlinie 2016/343 zwangsläufig gegeben.