Sicherungsverwahrung in Altfall verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 22. April 2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 320/20 entschieden, dass die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in einem sogenannten „Altfall“ nach Art. 316e Abs. 1 Satz 1 und 2, Art. 316f Abs. 2 Satz 1 EGStGB, § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB verfassungswidrig ist.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann „die Freiheit der Person“ und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein.

Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG erfordert auch im Verfahrensrecht Beachtung. Aus ihr ergeben sich Mindesterfordernisse für eine zuverlässige Wahrheitserforschung. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben (vgl. BVerfGE 70, 297 <308>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 28. September 2020 – 2 BvR 1235/17 -, Rn. 41).

In Bezug auf die Fortdauerentscheidungen bei Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass es bei einer langjährigen Unterbringung in der Regel geboten ist, von Zeit zu Zeit einen anstaltsfremden Sachverständigen hinzuzuziehen, um der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen vorzubeugen und um auszuschließen, dass Belange der Anstalt oder der Beziehung zwischen Untergebrachtem und Therapeuten das Gutachten beeinflussen. Aus denselben Gründen kann es bei langdauernder Unterbringung angezeigt sein, den Untergebrachten von einem solchen Sachverständigen begutachten zu lassen, der im Laufe des Vollstreckungsverfahrens mit diesem noch überhaupt nicht befasst war. Dabei kommt auch einem Gutachten, das ohne Exploration des Betroffenen allein auf der Grundlage der Akten, der Vorgutachten sowie der Unterbringungsunterlagen erstellt worden ist, Bedeutung zu, da ein neuer Gutachter die Feststellungen und Stellungnahmen der Unterbringungseinrichtung einer eigenständigen Bewertung zuführen wird, bei der sich seine gesteigerte Unvoreingenommenheit und kritische Distanz entfalten können.

Diese verfassungsrechtlichen Prinzipien gelten auch für den Vollzug einer Sicherungsverwahrung. Dem steht nicht entgegen, dass es für den Bereich der Sicherungsverwahrung einfachrechtlich an einer § 463 Abs. 4 Satz 2 StPO entsprechenden Regelung fehlt. Vielmehr folgen die Anforderungen an die Einholung von Sachverständigengutachten und die Bestimmung der Gutachter unmittelbar aus dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht auch in Bezug auf die Sicherungsverwahrung angenommen, dass das Gericht der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen durch die sorgfältige Auswahl des Gutachters entgegenwirken muss.

Die Entscheidung über die Einholung eines Sachverständigengutachtens aufgrund § 463 Abs. 3 Satz 3 in Verbindung mit § 454 Abs. 2 StPO ist zunächst Aufgabe der Fachgerichte. Ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts ist erst dann gerechtfertigt, wenn die Auslegung und Anwendung dieser freiheitssichernden Vorschriften mit Bedeutung und Tragweite des Freiheitsgrundrechts nicht zu vereinbaren sind oder sich als objektiv willkürlich erweisen.

Die Fachgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung der prozeduralen Sicherungen des Freiheitsgrundrechts allerdings zu berücksichtigen, dass die materiellen Freiheitsgarantien des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG unter den grundrechtlich verbürgten Rechten ein besonderes Gewicht haben und die Freiheit des Einzelnen nur in einem mit wesentlichen formellen Garantien ausgestatteten Verfahren entzogen werden darf. Daher sind Inhalt und Reichweite der Form- und Verfahrensvorschriften eines freiheitsbeschränkenden Gesetzes von den Fachgerichten so auszulegen, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten, schon um einer Aushöhlung und Entwertung des Grundrechts über das Verfahrensrecht entgegenzuwirken.

Ob eine Verletzung des Gebots der bestmöglichen Sachaufklärung vorliegt, weil eine erneute Beauftragung eines Sachverständigen mit der Gefahr einer repetitiven Routinebeurteilung verbunden ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Ein Indiz für eine derartige Gefahr kann insbesondere sein, dass der Sachverständige mehrere Gutachten in einer engen zeitlichen Abfolge erstattet hat. Entscheidend ist insoweit die Häufigkeit und die Intensität der Vorbefassung des beauftragten Sachverständigen. Verstärkt wird diese Gefahr, wenn der Betroffene zu einer Exploration durch den Sachverständigen nicht bereit ist und das Gutachten daher nach Aktenlage erstellt werden muss.