Das Bundesverfassungsgericht hat am 29.04.2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 1651/15 und 2 BvR 2006/15 im Anschluss an sein Urteil vom 5. Mai 2020 betreffend das Programm der Europäischen Zentralbank (EZB) zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (Public Sector Purchase Programme – PSPP) zwei Anträge auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung (§ 35 BVerfGG) verworfen.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 38/2021 vom 18.05.2021 ergibt sich:
Mit Urteil vom 5. Mai 2020 hat der Zweite Senat festgestellt, dass die Bundesregierung und – hinsichtlich der Antragsteller zu I. – auch der Deutsche Bundestag die Antragsteller in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG verletzt haben, indem sie es unterlassen haben, geeignete Maßnahmen dagegen zu ergreifen, dass der EZB-Rat die Verhältnismäßigkeit der im Zusammenhang mit dem PSPP beschlossenen Maßnahmen weder geprüft noch dargelegt hat. Bundesregierung und Bundestag werden mit dem Urteil insbesondere verpflichtet, auf eine entsprechende Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken. Die Antragsteller sind der Auffassung, dass die EZB den inhaltlichen Anforderungen des Urteils bisher nicht nachgekommen sei.
Die Anträge sind unzulässig, weil sie über die in der Entscheidung beurteilte Sach- und Rechtslage und damit über die Grenzen einer Vollstreckungsanordnung nach § 35 BVerfGG hinausgehen. Die Anträge sind aber auch unbegründet, weil Bundesregierung und Bundestag sich mit den nach dem Urteil vom 5. Mai 2020 ergangenen Beschlüssen des EZB-Rates und der hierbei erfolgten Prüfung und Darlegung der Verhältnismäßigkeit des PSPP inhaltlich befasst und diese für ausreichend befunden haben. Es ist nicht ersichtlich, dass sie dabei ihren Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum überschritten haben. Ob die vom EZB-Rat vorgenommene Verhältnismäßigkeitsprüfung den materiellen Anforderungen von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV in jeder Hinsicht genügt, ist für das vorliegende Verfahren nicht entscheidend.
Sachverhalt:
Das Urteil vom 5. Mai 2020 verpflichtet Bundesregierung und Bundestag, den Beschlüssen der EZB über das PSPP entgegenzutreten, soweit die EZB dessen Verhältnismäßigkeit nicht dargelegt hat und es deshalb als Ultra-vires-Akt zu qualifizieren war. Darüber hinaus hat der Senat ausgesprochen, dass die Bundesbank mit Ablauf einer Übergangsfrist von höchstens drei Monaten nach Verkündung des Urteils an der Umsetzung und dem Vollzug des PSPP nicht mehr mitwirken darf, wenn nicht der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den mit ihm verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen. In diesem Fall ist die Bundesbank auch verpflichtet, mit Blick auf die unter dem PSPP getätigten Ankäufe für eine im Rahmen des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) abgestimmte Rückführung der Bestände an Staatsanleihen zu sorgen.
Auf seiner geldpolitischen Sitzung vom 3./4. Juni 2020 fasste der EZB-Rat unter anderem zwei Beschlüsse, die die Verhältnismäßigkeit des PSPP zum Gegenstand haben. Am 26. Juni 2020 übersandte die Deutsche Bundesbank dem Bundesministerium der Finanzen verschiedene – teils als vertraulich eingestufte – Dokumente der EZB, die von diesem an den Deutschen Bundestag weitergeleitet wurden und von den Abgeordneten in der Geheimschutzstelle des Bundestages eingesehen werden konnten. Am 2. Juli 2020 stellte der Deutsche Bundestag in einem Beschluss fest, dass die vom EZB-Rat durchgeführte Verhältnismäßigkeitsprüfung den sich aus dem Urteil ergebenden Anforderungen genüge.
Mit ihrem Antrag auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung begehren die Antragsteller zu I. insbesondere, Bundesregierung und Bundestag zu verpflichten, ihnen gegenüber die Behebung der durch das Urteil vom 5. Mai 2020 festgestellten Rechtsverletzung darzulegen und dazu auch Einsicht in die von der EZB übermittelten, nicht öffentlichen Dokumente zu ermöglichen.
Der Antragsteller zu II. begehrt insbesondere die Feststellung, dass Bundestag und Bundesregierung weiterhin verpflichtet seien, auf die EZB einzuwirken, damit diese eine den Anforderungen des Urteils entsprechende substantiierte und nachvollziehbare Verhältnismäßigkeitsprüfung beschließt. Darüber hinaus habe die Bundesregierung auf die Bundesbank einzuwirken, die weitere Beteiligung am Vollzug des PSPP zu unterlassen.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Die Anträge sind unzulässig.
- Eine Vollstreckungsanordnung nach § 35 BVerfGG dient der Durchsetzung des vom Bundesverfassungsgericht gefundenen Rechts und der Herbeiführung des von der Sachentscheidung geforderten Zustands. Sie ist zu der Sachentscheidung akzessorisch und nur in den Grenzen des Tenors und der ihn tragenden Gründe zulässig. Nach Erlass der Sachentscheidung ergangene Maßnahmen sind deshalb kein tauglicher Gegenstand von Vollstreckungsanordnungen. Die ursprüngliche Sachentscheidung würde dadurch ergänzt und erweitert, weil auch die neue rechtliche Situation analysiert und verfassungsrechtlich gewürdigt werden müsste. Dies gilt nicht nur für nach der Verkündung der Sachentscheidung erlassene Gesetze, sondern entsprechend auch für die nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage durch andere Hoheitsakte oder sonstige Maßnahmen der durch das Urteil verpflichteten Staatsorgane.
- Die Anträge auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung sind unstatthaft.
Sie zielen auf die (inzidente) Feststellung, dass die nach dem 5. Mai 2020 von Bundesregierung und Bundestag in Vollzug des Urteils getroffenen Maßnahmen nicht verfassungsgemäß seien. Dies setzte eine verfassungsrechtliche Prüfung der nach dem Urteil getroffenen Maßnahmen und der durch sie veränderten Rechtslage voraus, weil diese Maßnahmen erst nach Verkündung des Urteils ergriffen wurden und bei der Entscheidungsfindung noch nicht berücksichtigt werden konnten. Dies gilt auch für den im Zusammenhang damit gestellten Antrag auf Einsicht in die nicht veröffentlichten, der Bundesregierung und dem Bundestag überlassenen Dokumente der EZB, der sich als Annex zu dem (unstatthaften) Antrag darstellt.
III. Im Übrigen sind die Anträge auch unbegründet.
- Bundesregierung und Bundestag sind im Zusammenwirken mit der EZB nach dem 5. Mai 2020 zur Umsetzung des Urteils tätig geworden. Wie sie die vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Rechtsverletzung beheben, entscheiden die Verfassungsorgane grundsätzlich eigenverantwortlich und verfügen insoweit über einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum. Etwas Anderes ist nur dann anzunehmen, wenn es an jeglichen Schutzvorkehrungen fehlt, die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzureichend sind oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben.
- Es ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass die – teils mit Unterstützung der Bundesbank und im Zusammenwirken mit dem EZB-Rat getroffenen – Maßnahmen von Bundesregierung und Bundestag nach dem 5. Mai 2020 hinter diesen Anforderungen zurückblieben.
- a) Bereits kurz nach Erlass des Urteils am 5. Mai 2020 gab es neben einem nicht öffentlichen Fachgespräch im Finanzausschuss in verschiedenen Ausschüssen des Bundestages einen Austausch zum Thema Geldpolitik mit dem Präsidenten der Bundesbank. Im Haushaltsausschuss fand eine Unterrichtung durch die Bundesregierung über die Konsequenzen und die Umsetzung des Urteils statt. Ferner gab es eine Aktuelle Stunde im Plenum und eine öffentliche Anhörung im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages erstellten eine Ausarbeitung zur Unionsrechtskonformität des PSPP; daneben wurden Kurzinformationen zu den geldpolitischen Entscheidungen des EZB-Rates vom 3./4. Juni 2020 herausgegeben.
- b) Der EZB-Rat hat auf seiner Sitzung am 3./4. Juni 2020 unter anderem zwei Beschlüsse gefasst, die die Verhältnismäßigkeit des PSPP zum Gegenstand haben. Er hat hierbei Kosten und Nutzen von Wertpapierankäufen erörtert und die potentiellen Wechselwirkungen zwischen Geld- und Finanzpolitik ebenso behandelt wie die Sicherheitsvorkehrungen zur Schaffung von Anreizen für eine solide Finanzpolitik und die Gefahr einer fiskalischen Dominanz. Auf dieser Grundlage hat er den Schluss gezogen, dass die Wertpapierankäufe aus gesamtwirtschaftlicher Sicht einen sehr großen positiven Beitrag zum Wirtschaftswachstum und zur Inflation im Euroraum geleistet hätten.
- c) Aufgrund der ihnen von der EZB zugeleiteten Dokumente sind Bundesregierung und Bundestag zu dem Ergebnis gelangt, dass die EZB den im Urteil vom 5. Mai 2020 festgestellten kompetenzrechtlichen Mangel durch die von ihr durchgeführte Verhältnismäßigkeitsprüfung behoben habe und der Entscheidung damit Genüge getan sei. Die Plenardebatte vom 2. Juli 2020 belegt insoweit eine inhaltliche Auseinandersetzung des Deutschen Bundestages mit den Anforderungen aus dem Urteil vom 5. Mai 2020. Auch wenn dabei unterschiedliche Auffassungen zutage getreten sind, so hat der Bundestag doch mehrheitlich festgestellt, dass die erwarteten faktischen Auswirkungen des PSPP auf die Finanzen der Mitgliedstaaten, die privaten Haushalte, Sparer und Kreditnehmer, den Bankensektor und Unternehmen in den Beschlüssen des EZB-Rates vom 3./4. Juni 2020 und der ihnen vorausgegangenen Diskussion abgebildet, gewichtet und mit dem Ziel des PSPP, die Inflationsrate auf unter, aber nahe 2 % steigern zu wollen, in Beziehung gesetzt und nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten abgewogen worden seien.
- Im Ergebnis sind Bundesregierung und Bundestag damit weder untätig geblieben, noch haben sie Maßnahmen getroffen, die offensichtlich ungeeignet oder völlig unzureichend wären, um die sich aus dem Urteil vom 5. Mai 2020 ergebende Verpflichtung, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung in Ansehung des PSPP zu bewirken, zu erfüllen.