EuGH-Generalanwalt: Polnisches Gesetz über Disziplinarregelung für Richter verstößt gegen EU-Recht

07. Mai 2021 -

Nach Auffassung von Evgeni Generalanwalt Tanchev im Verfahren C-791/19 vor dem Europäischen Gerichtshof verstößt das polnische Gesetz über die Disziplinarregelung für Richter gegen EU-Recht.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 75/2021 vom 06.05.2021 ergibt sich:

Im Jahr 2017 erließ Polen eine neue Disziplinarordnung für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Gemäß dieser Gesetzesreform wurde insbesondere eine neue Kammer, die Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer), beim Sąd Najwyższy eingerichtet. Die Disziplinarkammer ist namentlich für Disziplinarsachen gegen Richter des Sąd Najwyższy und im zweiten Rechtszug für Disziplinarsachen gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuständig.

Da die Kommission der Auffassung war, dass Polen durch den Erlass der neuen Disziplinarordnung für Richter gegen seine unionsrechtlichen Verpflichtungen (Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV) verstoßen habe, hat sie am 25. Oktober 2019 Klage vor dem Gerichtshof erhoben. Die Kommission macht insbesondere1 geltend, dass die neue Disziplinarordnung die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer nicht gewährleiste. Diese sei ausschließlich mit Richtern besetzt, die von der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, im Folgenden: KRS) ausgewählt worden seien. Deren 15 der Richterschaft angehörenden Mitglieder wiederum seien vom Sejm (Abgeordnetenkammer) gewählt worden.

Mit seinem Urteil vom 19. November 2019 (C-585/18, C-624/18 und C-625/18 „A.K. u.a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts]) stellte der Gerichtshof, der vom Sąd Najwyższy – Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych (Oberstes Gericht – Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen) angerufen worden war, u. a. fest, dass das Unionsrecht dem entgegensteht, dass Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung des Unionsrechts in die ausschließliche Zuständigkeit einer Einrichtung fallen können, die kein unabhängiges und unparteiisches Gericht ist2. In der Folge befand der Sąd Najwyższy – Izba Pracy i Ubezpieczeń

Społecznych bei der Entscheidung der Rechtsstreitigkeiten, die zu seinem Vorabentscheidungsersuchen geführt hatten, in seinen Urteilen vom 5. Dezember 2019 und vom 15. Januar 2020 insbesondere, dass die Disziplinarkammer unter Berücksichtigung der Umstände ihrer Errichtung, des Umfangs ihrer Zuständigkeiten, ihrer Besetzung und der Rolle, die die KRS bei ihrer Einrichtung einnahm, weder als Gericht im Sinne des Unionsrechts noch als Gericht im Sinne des polnischen Rechts angesehen werden könne. Die Disziplinarkammer übte ihre richterlichen Funktionen nach diesen Urteilen weiterhin aus.

Unter diesen Umständen hat die Kommission (unterstützt durch Belgien, Dänemark, die Niederlande, Finnland und Schweden) im Rahmen eines Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes am 23. Januar 2020 beantragt, Polen folgende einstweilige Anordnungen zu erteilen: (1) bis zum Urteil des Gerichtshofs über die Vertragsverletzungsklage (im Folgenden: Endurteil) die Anwendung der Bestimmungen auszusetzen, auf denen die Zuständigkeit der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy beruht, sowohl im ersten als auch im zweiten Rechtszug in Disziplinarsachen gegen Richter zu entscheiden, (2) es zu unterlassen, die bei der Disziplinarkammer anhängigen Verfahren an einen Spruchkörper zu verweisen, der die insbesondere im vorgenannten Urteil A. K. u. a. definierten Anforderungen an die Unabhängigkeit nicht erfüllt, und (3) der Kommission spätestens einen Monat nach Zustellung des Beschlusses des Gerichtshofs, mit dem die beantragten einstweiligen Anordnungen erteilt werden, alle Maßnahmen mitzuteilen, die Polen erlassen hat, um diesem Beschluss in vollem Umfang nachzukommen.

Mit Beschluss vom 8. April 2020 hat der Gerichtshof sämtlichen Anträgen bis zur Verkündung des Endurteils in der vorliegenden Rechtssache stattgegeben.

In seinen Schlussanträgen vom 06.05.2021 hat Generalanwalt Evgeni Tanchev dem EuGH vorgeschlagen zu urteilen, dass das polnische Gesetz über die Disziplinarregelung für Richter gegen EU-Recht verstößt.

Generalanwalt Tanchev weist zunächst den Einwand Polens zurück, dass das Recht auf ein durch Gesetz errichtetes Gericht, das Recht auf ein Verfahren innerhalb angemessener Frist sowie die Verteidigungsrechte sich nicht aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV („Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“) ableiten ließen und dass diese Rechte auf die auf Grundlage der streitigen Maßnahmen durchgeführten Disziplinarsachen nicht anwendbar seien, weil diese internen Charakter hätten und das Disziplinargericht in solchen Sachen kein Unionsrecht anwende. Er verweist darauf, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV auf jede nationale Einrichtung anwendbar ist, die als Gericht über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hat. Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass das Oberste Gericht und die ordentlichen Gerichte in Polen zur Entscheidung über Fragen, die die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts betreffen und damit in die vom Unionsrecht erfassten Bereiche fallen, angerufen werden können. Der Umstand, dass es in den aufgrund der streitigen Maßnahmen betriebenen Disziplinarverfahren nicht um die Durchführung von Unionsrecht geht, ist ebenso unerheblich wie das Fehlen einer allgemeinen Zuständigkeit der Union im Bereich der Disziplinarverantwortung der Richter.

Dann prüft der Generalanwalt das Vorbringen der Kommission, die streitige Regelung verstoße gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, da sie es gestatte, den Inhalt gerichtlicher Entscheidungen als Disziplinarvergehen zu behandeln. Disziplinarmaßnahmen kommen gegen Richter nur für die schwersten Formen von Fehlverhalten im Amt in Betracht, und nicht wegen des Inhalts von Gerichtsentscheidungen, in denen es im Allgemeinen um Tatsachen- und Beweiswürdigung und die Auslegung des Rechts geht. Der disziplinarrechtliche Tatbestand der offensichtlichen und groben Missachtung der Rechtsvorschriften und der Verletzung der Würde des Amtes kann tatsächlich auch den Inhalt gerichtlicher Entscheidungen umfassen und enthält keine ausreichenden Garantien für den Schutz der Richter. Schon allein die Möglichkeit, dass Richter wegen des Inhalts ihrer Gerichtsentscheidungen mit Disziplinarverfahren oder -maßnahmen überzogen werden könnten, hat zweifellos „abschreckende Wirkung“, und zwar nicht nur auf die betroffenen Richter, sondern auch auf künftige Richter; dies ist mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nicht vereinbar.

Weiterhin hat die Kommission nach Ansicht von Generalanwalt Tanchev hinreichend dargetan, dass die streitigen Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer nicht gewährleisten und daher gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen. Es kann nicht zugelassen werden, dass ein Gericht nicht den Eindruck der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit vermittelt und dadurch das Vertrauen beeinträchtigt, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen genießt.

Indem sie in Fällen, die Richter an ordentlichen Gerichten betreffen, die Bestimmung des zuständigen Disziplinargerichts erster Instanz in das Ermessen des Vorsitzenden der Disziplinarkammer stellt, verstößt die nationale Regelung dem Generalanwalt zufolge gegen das Erfordernis, dass ein solches Gericht durch Gesetz errichtet sein muss; dessen Beachtung ist notwendig, um die sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu erfüllen. Da die streitigen Bestimmungen – abgesehen davon, dass das Gericht, dem der beschuldigte Richter angehört, nicht in Betracht kommt – nämlich keine Angaben zu den Kriterien enthalten, nach denen der Vorsitzende der Disziplinarkammer das zuständige Disziplinargericht bestimmt, besteht die Gefahr, dass dieses Ermessen in solcher Weise ausgeübt werden könnte, dass der Status der Disziplinargerichte als durch Gesetz errichtete Gerichte untergraben würde. Darüber hinaus könnte die fehlende Unabhängigkeit der Disziplinarkammer als ein Faktor gesehen werden, der zu berechtigten Zweifeln an der Unabhängigkeit des Vorsitzenden der Kammer beiträgt.

Generalanwalt Tanchev weist dann darauf hin, dass die streitige Regelung, wonach der Justizminister durch Bestellung eines Disziplinarbeauftragten des Justizministers Vorwürfe gegen Richter der ordentlichen Gerichte auf unbegrenzte Zeit aufrechterhalten kann, gegen das Recht auf ein Verfahren innerhalb angemessener Frist verstößt. Auch verletzt die nationale Regelung, wonach Handlungen im Zusammenhang mit der Bestellung eines Verteidigers von Amts wegen den Lauf des Disziplinarverfahrens nicht hemmen und Verfahren auch in Abwesenheit des beschuldigten Richters oder seines Verteidigers durchgeführt werden können, die Verteidigungsrechte. Diese Rechte gehören zu den Anforderungen des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV.

Zuletzt verstößt die streitige Regelung nach Ansicht des Generalanwalts gegen Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV – der das Ermessen bzw. die Pflicht der nationalen Gerichte regelt, um Vorabentscheidung zu ersuchen –, indem sie es zulässt, dass das Recht der nationalen Gerichte, um Vorabentscheidung zu ersuchen, durch die Möglichkeit der Einleitung von Disziplinarverfahren eingeschränkt wird. Er erinnert daran, dass nationale Bestimmungen, nach denen gegen nationale Richter ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden kann, weil sie ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet haben, nicht zugelassen werden können. Denn solche Maßnahmen untergraben nicht nur die Funktionsweise des Vorlageverfahrens, sondern werden wahrscheinlich auch künftig andere nationale Richter in ihren Entscheidungen darüber beeinflussen, ob sie Vorlagefragen stellen, wodurch eine „abschreckende Wirkung“ erzielt wird. Allein schon der Gedanke, dass ein nationaler Richter wegen eines Vorabentscheidungsersuchens Disziplinarverfahren oder -maßnahmen ausgesetzt werden könnte, trifft nach Ansicht des Generalanwalts das in Art. 267 AEUV vorgesehene Verfahren in seinem Kern – und damit auch die Grundlagen der Union selbst.

1 Darüber hinaus macht die Kommission geltend, dass die neue Disziplinarordnung (1) zulasse, dass der Inhalt von Gerichtsentscheidungen als von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit begangenes Disziplinarvergehen gewertet werden könne, (2) nicht gewährleiste, dass Disziplinarsachen von einem „durch Gesetz errichteten“ Gericht entschieden würden, da sie dem Vorsitzenden der Disziplinarkammer das Recht einräume, bei Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit das zuständige Disziplinargericht erster Instanz nach seinem Ermessen zu bestimmen, (3) nicht gewährleiste, dass Disziplinarverfahren gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit innerhalb einer angemessenen Frist entschieden würden, da sie dem Justizminister die Zuständigkeit zur Ernennung des Disziplinarbeauftragten des Justizministers übertrage, und die Verteidigungsrechte der beschuldigten Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht gewährleiste, da sie vorsehe, dass die Handlungen, die mit der Ernennung eines Verteidigers sowie der Verteidigung durch diesen zusammenhingen, den Lauf des Disziplinarverfahrens nicht hemmten und das Disziplinargericht das Verfahren trotz der entschuldigten Abwesenheit des benachrichtigten Beschuldigten oder seines Verteidigers durchführe, und (4) zulasse, dass das Recht der Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens eingeschränkt werde.

2 Nach Ansicht des Gerichtshofs ist das der Fall, wenn die objektiven Bedingungen, unter denen die Einrichtung geschaffen wurde, ihre Merkmale sowie die Art und Weise der Ernennung ihrer Mitglieder geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und somit dazu führen können, dass diese Einrichtung nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.