Der Europäische Gerichtshof hat am 29.04.2021 zum Aktenzeichen C-665/20 klärt die Tragweite des Grundsatzes ne bis in idem, der bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls für Handlungen gilt, die bereits Gegenstand einer früheren Verurteilung in einem Drittland waren.
Aus Pressemitteilung des EuGH Nr. 73/2021 vom 29.04.2021 ergibt sich:
Im September 2019 wurde ein Europäischer Haftbefehl von den deutschen Behörden gegen X ausgestellt, um gegen ihn wegen im Jahr 2012 an seiner Lebensgefährtin und deren Tochter verübter Handlungen ein Strafverfahren durchführen zu können. Im März 2020 wurde X in den Niederlanden aufgegriffen. Er widersprach seiner Übergabe an die deutschen Behörden und machte geltend, dass er wegen dieser Handlungen bereits in Iran verfolgt und rechtskräftig verurteilt worden sei. Genauer gesagt sei er wegen eines Teils dieser Handlungen freigesprochen und wegen des anderen Teils zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, die er fast vollständig verbüßt habe, bevor er in den Genuss eines Straferlasses gekommen sei. Dieser sei ihm in Folge einer allgemeinen Begnadigungsmaßnahme gewährt worden, die von einer Behörde, die keine Justizbehörde sei, nämlich dem Obersten Führer des Iran, anlässlich des 40. Jahrestages der Islamischen Revolution verkündet worden sei. Nach Auffassung von X steht aufgrund seiner früheren Verurteilung in Iran der Grundsatz ne bis in idem, wie er in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses über den Haftbefehl (Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Stellungnahmen bestimmter Mitgliedstaaten zur Annahme des Rahmenbeschlusses – ABl. 2002, L 190, S. 1 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 – ABl. 2009, L 81, S. 24 geänderten Fassung) genannt und in niederländisches Recht umgesetzt ist, der Vollstreckung des ihn betreffenden Europäischen Haftbefehls entgegen.
Nach diesem Artikel kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung verweigern, wenn die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann. Dieser Grund, „aus dem die Vollstreckung abgelehnt werden kann“, ist dem in Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Grund, „aus dem die Vollstreckung abzulehnen ist“, ähnlich. Dabei betrifft Letzterer allerdings nicht ein von einem Drittstaat, sondern von einem Mitgliedstaat erlassenes Urteil.
In diesem Zusammenhang hat die Rechtbank Amsterdam (Gericht Amsterdam, Niederlande) beschlossen, den Gerichtshof um die Auslegung von Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses zu ersuchen. Dieses Gericht, das über die Übergabe von X zu befinden hat, hat nämlich Zweifel hinsichtlich des ihm in einem solchen Fall eingeräumten Ermessensspielraums, hinsichtlich des Begriffs „dieselbe Handlung“ in diesem Artikel, da die iranischen Gerichte nicht ausdrücklich über bestimmte Handlungen, die X in Deutschland zur Last gelegt werden, entschieden haben, und hinsichtlich der Tragweite der Voraussetzung, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion „bereits vollstreckt worden ist oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann“.
Mit seinem Urteil, das im Rahmen eines Eilverfahrens ergangen ist, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die vollstreckende Justizbehörde über einen Ermessensspielraum verfügen muss, um bestimmen zu können, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus dem fraglichen Grund abzulehnen ist oder nicht. Sodann muss der Begriff „dieselbe Handlung“ (dieser Begriff findet sich in Art. 3 Nr. 2 und in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses) einheitlich ausgelegt werden. Schließlich ist die Voraussetzung der Vollstreckung der Sanktion in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erfüllt.
Würdigung des Gerichtshofs
Als Erstes weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Rahmenbeschluss zum einen die Gründe nennt, aus denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist (sie sind in Art. 3 des Rahmenbeschlusses enthalten), und zum anderen die Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann (sie sind in Art. 4 und Art. 4a des Rahmenbeschlusses enthalten), bei denen es den Mitgliedstaaten überlassen ist, sie in ihr innerstaatliches Recht umzusetzen oder nicht. Setzen sie die letzteren Gründe um, können die Mitgliedstaaten jedoch nicht vorsehen, dass die Justizbehörden gehalten sind, automatisch die Vollstreckung jedes betroffenen Europäischen Haftbefehls abzulehnen. Denn die Justizbehörden müssen einen Ermessensspielraum haben, der ihnen ermöglicht, eine Prüfung in jedem einzelnen Fall vorzunehmen, indem sie alle erheblichen Umstände berücksichtigen. Ihnen diese Möglichkeit zu nehmen, würde dazu führen, eine bloße Möglichkeit, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu verweigern, durch eine echte Verpflichtung zu ersetzen, obwohl diese Weigerung die Ausnahme und die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls die grundsätzliche Regel darstellt.
Des Weiteren unterstreicht der Gerichtshof den Unterschied zu dem Grund, aus dem die Vollstreckung abzulehnen ist, gemäß Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses. Die Anwendung dieses Grundes lässt der vollstreckenden Justizbehörde demgegenüber keinerlei Ermessensspielraum. Die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, die zwischen den Mitgliedstaaten gelten und sie zu der Annahme verpflichten, dass jeder von ihnen das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte beachtet, sind nämlich nicht automatisch auf die Urteile übertragbar, die von drittstaatlichen Gerichten erlassen werden. Ein hohes Maß an Vertrauen in das Strafrechtssystem, wie dieses unter den Mitgliedstaaten besteht, kann daher in Bezug auf Drittländer nicht vermutet werden. Aus diesem Grund muss der vollstreckenden Justizbehörde ein Ermessensspielraum zuerkannt werden.
Als Zweites stellt der Gerichtshof fest, dass der Begriff „dieselbe Handlung“, der in Art. 3 Nr. 2 und in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses enthalten ist, einheitlich auszulegen ist. Aus Gründen der Kohärenz und der Rechtssicherheit muss diesen beiden identisch gefassten Begriffen dieselbe Tragweite beigemessen werden. Der Gerichtshof fügt hinzu, dass der Umstand, dass Art. 3 Nr. 2 in der Union ergangene Urteile betrifft, während sich Art. 4 Nr. 5 auf Urteile bezieht, die in Drittstaaten ergangen sind, es als solcher nicht zu rechtfertigen vermag, diesem Begriff eine unterschiedliche Bedeutung beizulegen.
Als Drittes stellt der Gerichtshof fest, dass die in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses vorgesehene Voraussetzung der Vollstreckung der Sanktion in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erfüllt ist. Insoweit betont der Gerichtshof, dass in diesem Artikel in allgemeiner Form vom „Recht des Urteilsstaats“ die Rede ist, ohne nähere Erläuterung, warum nicht vollstreckt werden kann. Dabei sind die Schwere der Handlung, die Art der Behörde, die die Maßnahme gewährt hat, oder die Erwägungen, auf denen diese Maßnahme beruht, wenn sie beispielsweise nicht auf objektive Erwägungen der Strafpolitik gestützt wird, unerheblich.
Der Gerichtshof führt jedoch weiter aus, dass die vollstreckende Justizbehörde bei der Ausübung des Ermessenspielraumes, über den sie verfügt, um den in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Grund, aus dem die Vollstreckung abgelehnt werden kann, anzuwenden, eine Abwägung vornehmen muss. Dabei sind zum einen die Vermeidung der Straflosigkeit der Personen, die verurteilt worden sind, und die Bekämpfung der Kriminalität und zum anderen die Gewährleistung der Rechtssicherheit dieser Personen durch die Beachtung von rechtskräftig gewordenen Entscheidungen öffentlicher Behörden miteinander in Einklang zu bringen. Der Grundsatz ne bis in idem, der im Rahmenbeschluss sowohl in Art. 3 Nr. 2 als auch in Art. 4 Nr. 5 enthalten ist, umfasst diese beiden Aspekte.