Nach Ansicht von Generalanwalt Pitruzzella im Verfahren C-783/19 vor dem Europäischen Gerichtshof sind Erzeugnisse, die eine geschützte Ursprungsbezeichnung tragen, gegen jede Form kommerzieller Trittbrettfahrerei geschützt.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 74/21 vom 29.04.2021 ergibt sich:
Eine solche liegt vor, wenn ein anspielendes Element (z.B. ein Name) in Bezug auf bestimmte Erzeugnisse oder Dienstleistungen den Durchschnittsverbraucher veranlasst, einen unmittelbaren gedanklichen Bezug zu einem von einer geschützten Ursprungsbezeichnung erfassten Erzeugnis herzustellen.
Das Comité Interprofessionnel du Vin de Champagne, eine Einrichtung, die die Interessen der Champagnererzeuger vertritt, klagte in Spanien vor Gericht auf Unterlassung der Verwendung des Ausdrucks „CHAMPANILLO“ insbesondere im Zusammenhang mit Gastronomiebetrieben, sog. Tapas Bars, in Katalonien (Spanien). Die im zweiten Rechtszug angerufene Audiencia Provincial de Barcelona (Provinzgericht Barcelona, Spanien) ersucht den Gerichtshof um Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften zum Schutz von Erzeugnissen, die von einer geschützten Ursprungsbezeichnung (g.U.) wie der Bezeichnung „Champagne“ erfasst werden, in einer Situation, in der der damit in Konflikt stehende Ausdruck („CHAMPANILLO“) zur Bezeichnung nicht von Erzeugnissen, sondern von Dienstleistungen verwendet wird.
In seinen Schlussanträgen vom 29.04.2021 schlägt Generalanwalt Giovanni Pitruzzella dem Gerichtshof vor, zu erkennen, dass das Unionsrecht Erzeugnisse, die eine g.U. tragen, gegen alle Praktiken kommerzieller Trittbrettfahrerei schützt, unabhängig davon, ob diese Praktiken Erzeugnisse oder Dienstleistungen zum Gegenstand haben.
Der Generalanwalt schickt voraus, dass auf den vorliegenden Fall die Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 über die gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse1 Anwendung finde. Er stellt fest, dass die g.U. „Champagne“ und der streitige Name „CHAMPANILLO“ zweifellos einen gewissen Grad an visueller und klanglicher Ähnlichkeit aufwiesen, insbesondere, wenn man berücksichtige, dass diese g.U. mit „Champán“ ins Spanische übersetzt werde. Vor diesem Hintergrund erinnert der Generalanwalt daran, dass der Grad an visueller und klanglicher Ähnlichkeit zwischen den einander gegenüber stehenden Begriffen nahe an der Identität sein muss, damit von der „Verwendung“ einer g.U. im Sinne der Verordnung die Rede sein kann2. Im vorliegenden Fall unterscheide aber die Nachsilbe „illo“ den Ausdruck „CHAMPANILLO“ visuell und klanglich von den zum Vergleich stehenden Begriffen. Somit liege in dem Ausdruck „CHAMPANILLO“ keine „Verwendung“ der g.U. „Champagne“ im Sinne der Verordnung. Die Verordnung verbiete aber nicht nur die unbefugte Verwendung einer g.U., sondern allgemeiner auch jede Erzeugnisse oder Dienstleistungen betreffende Praxis, die darauf abziele, das Ansehen einer g.U. durch eine gedankliche Assoziation mit dieser schmarotzerhaft auszunutzen. Insbesondere verbiete die Verordnung die unbefugte Anspielung auf die g.U.
Der Generalanwalt legt im Einzelnen dar, dass es bei der Feststellung, ob eine Anspielung auf eine g.U. vorliege, darauf ankomme, ob der angemessen aufmerksame europäische Verbraucher veranlasst werde, eine gedankliche Verbindung zwischen dem streitigen, auf das in Rede stehende Erzeugnis oder die fragliche Dienstleistung bezogenen Element auf der einen Seite und dem Erzeugnis, das die g.U. trage, auf der anderen Seite herzustellen (EuGH, Urt. v. 02.05.2019 – C-614/17). Gelange also das nationale Gericht, dem diese Beurteilung zukomme, auf der Grundlage der mutmaßlichen Reaktion des Verbrauchers zu dem Ergebnis, dass dieser durch das streitige Element (hier den auf Gastronomiedienstleistungen bezogenen Namen „CHAMPANILLO“) veranlasst werde, „einen unmittelbaren gedanklichen Bezug“ zu der durch die eingetragene Bezeichnung geschützten Ware (hier Champagner) „herzustellen“, sei die Verwendung dieses Elements nach der Verordnung verboten. Könne dagegen nach dem Urteil des nationalen Gerichts eine solche gedankliche Verbindung nicht vollzogen werden, sei davon auszugehen, dass eine Anspielung im Sinne der Verordnung ausgeschlossen sei.
Die Feststellung einer Anspielung setze seitens des nationalen Gerichts eine Beurteilung aller relevanten Umstände des konkreten Falls im Wege einer Gesamtbetrachtung voraus. Zu diesen Umständen gehöre die Frage, ob das Erzeugnis, das die g.U. trage, und das in Redestehende Erzeugnis oder die fragliche Dienstleistung identisch bzw. vergleichbar seien oder nicht. Dabei lasse sich im Übrigen das Vorliegen einer Anspielung nicht schon allein anhand einer etwa geringen Vergleichbarkeit ausschließen.
Im konkreten Fall schlägt der Generalanwalt dem Gerichtshof vor, das nationale Gericht dazu aufzurufen, außer der erwähnten teilweisen visuellen und klanglichen Ähnlichkeit auch die starke begriffliche Ähnlichkeit zwischen der g.U. „Champagne“ und dem Wort „CHAMPANILLO“ (wörtlich: „kleiner Champagner“) zu berücksichtigen. Sollte das nationale Gericht sodann feststellen, dass die mit dem Ausdruck „CHAMPANILLO“ gekennzeichneten „Tapas Bars“ mit dem Ausschank von Champagner oder identischen bzw. vergleichbaren Erzeugnissen in Verbindung stünden, spräche ein weiteres Argument für die Annahme, dass in dem Wort „CHAMPANILLO“ eine unbefugte Anspielung auf die g.U. im Sinne der Verordnung liege. Dafür könne auch der Umstand sprechen, dass das Wort „CHAMPANILLO“ in Firmenzeichen und Werbebotschaften mit dem Bild zweier Gläser in Schalenform einhergehe, die sich in einer Weise träfen, die ein Anstoßen darstelle.
Schließlich führt der Generalanwalt aus, dass der nach der Verordnung vorgesehene Schutz gegen Anspielung weder notwendigerweise voraussetze, dass die Erzeugnisse, die die g.U. trügen, und die Erzeugnisse oder Dienstleistungen, für die das streitige Element verwendet werde, in einem Wettbewerbsverhältnis stünden, noch, dass für den Verbraucher mit Letzteren eine Verwechslungsgefahr verbunden sei, und auch nicht, dass den Verhaltensweisen, mit denen eine Anspielung verbunden sei, Absicht zugrunde liege. Daher setze der Schutz der g.U. nicht zwangsläufig einen unlauteren Wettbewerb voraus.
1 Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates (ABl. 2013, L 347, 671). Vor dem 20. Dezember 2013 galten für den vorliegenden Sachverhalt die – soweit hier von Interesse – im Wesentlichen gleichlautenden Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates vom 22. Oktober 2007 über eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte und mit Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse (Verordnung über die einheitliche GMO) (ABl. 2007, L 299, 1).
2 Urteil des Gerichtshofs vom 7. Juni 2018 in der Rechtssache C-44/17, Scotch Whisky Association, in dem die Verordnung (EG) Nr. 110/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Januar 2008 zur Begriffsbestimmung, Bezeichnung, Aufmachung und Etikettierung von Spirituosen sowie zum Schutz geografischer Angaben für Spirituosen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 1576/89 (ABl. 2008, L 39, 16) ausgelegt wurde. Hinsichtlich des Begriffs der Verwendung einer geografischen Angabe hat diese Verordnung einen ähnlichen Inhalt wie die hier maßgebliche Verordnung Nr. 1308/2013.