Bundesweite Notbremse kontrovers diskutiert

20. April 2021 -

Die von der Bundesregierung geplante Änderung des Infektionsschutzgesetzes wird von Sachverständigen unterschiedlich beurteilt.

Aus hib – heute im bundestag Nr. 501 vom 16.04.2021 ergibt sich:

Das wurde während einer öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses zum Entwurf (BT-Drs. 19/28444 – PDF, 276 KB) am Freitagnachmittag deutlich. Künftig soll zur Eindämmung des Coronavirus bundesweit eine automatische Notbremse greifen, wenn in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen den Schwellenwert von 100 überschreiten (Inzidenz 100). Vorgesehen ist unter anderem eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 21 und 5 Uhr. Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 200 gilt ein Verbot für Präsenzunterricht an Schulen.

Professor Ferdinand Wollenschläger von der Universität Augsburg sieht in der durch die Bundesgesetzgebung verbundenen Zentralisierung des Rechtsschutzes beim Bundesverfassungsgericht „kein Rechtsschutzdefizit“. Vielmehr verbürge die Verfassungsbeschwerde effektiven Individualrechtsschutz gerade mit Blick auf die im Zentrum stehenden Grundrechtsfragen, befand er.

Gelungen ist der Gesetzentwurf nach Auffassung von Professor Michael Breuer von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er enthalte „verhältnismäßige Grundrechtseinschränken“, die dem Ziel dienten, die Infektionszahlen einzugrenzen. Verhältnismäßig sei auch die geplante Ausgangssperre, deren Beginn aber aus Praktikabilitätsgründen auf 22 Uhr verschoben werden sollte, regte er an. Die Bezugnahme auf eine Inzidenzzahl von 100 ist aus Sicht Breuers ebenfalls ein sinnvoller Maßstab.

Verfassungsrechtliche Probleme sieht hingegen Professor Christoph Möllers von der Humboldt Universität Berlin. Es gebe Tausende von Grundrechtseingriffen in unüberschaubar vielen Konstellationen, die künftig einzig vom Bundesverfassungsgericht zu bewältigen seien. „Wenn das kein Problem wäre, bräuchten wie keine Verwaltungsgerichtsbarkeit“, sagte er. Problematisch seien auch die Ausgangssperren, zu denen es Alternativen wie etwa zweckgerichtete Kontaktsperren gebe. Die Festlegung auf den Inzidenzwert 100 sah Möllers auch kritisch und befürchtet ein „Einpegeln rund um den Wert“.

Aus Sicht von Professor Ulrich Vosgerau von der Universität zu Köln hat das Gesetz mit einer klassischen Gefahrenabwehr nichts zu tun, sondern sei eine Notstandsgesetzgebung. Beleg dafür sei, das auch „Nicht-Störer“, also nicht Infizierte, ihre grundrechtlichen Freiheiten aufgeben müssten. Auch die Abstellung auf den Inzidenzwert von 100 sei nicht geeignet, um die Maßnahmen zu begründen. Eine positive Testung sage bei symptomfreien Personen nichts darüber aus, ob diese die Viren verbreiten können, sagte Vosgerau. Ihm scheine, so sagte er weiter mit Blick auf die Einschränkung des Weges der Klage auf das Bundesverfassungsgericht, der Zweck des Gesetzes bestehe darin, „die Oberverwaltungsgerichte auszuschalten“.

Für Professor Thorsten Kingreen von der Universität Regenburg wirft der Gesetzentwurf „diverse neue Probleme auf, ohne die bestehenden Herausforderungen anzugehen“. Er kritisierte die nächtlichen Ausgangssperren. Besser, sagte Kingreen, sei es, wenn der Bund lediglich die Voraussetzungen festschreiben würde, unter denen die Länder die Ausgangssperren anordnen müssten. Es werde im Übrigen in dem Gesetzentwurf nicht erklärt, warum der Aufenthalt im Freien vor 21 Uhr infektionsschutzrechtlich ungefährlicher sei als danach.

Die bundesweite Vereinheitlichung der Corona-Schutzmaßnahmen durch eine gesetzliche Regelung führt aus Sicht von Andrea Kießling von der Ruhr Uni Bochum zu Rechtsunsicherheit und schränkt die Rechtsschutzmöglichkeiten der Bevölkerung ein. Das aktuelle Infektionsgeschehen und die Situation in den Krankenhäusern in Deutschland erfordere gleichwohl dringend das Ergreifen „wirksamer Schutzmaßnahmen“. Eine Ausgestaltung der „Notbremse“, die das Infektionsgeschehen nur um den Inzidenzwert von 100 verstetige, sei für eine nachhaltige Eindämmung des Infektionsgeschehens ungeeignet. „Notwendig ist keine Bremse, sondern eine Schubumkehr“, betonte Kießling.

Professor Kai Nagel von der TU Berlin räumte ein, das nächtliche Ausgangssperren den R-Wert reduzieren könnten. Modulationen zeigten aber, dass der Erfolg fünf Mal so hoch sei, wenn ganztätig der Aufenthalt im öffentlichen Raum „zum Zweck eines privaten Besuches“ verboten würde. Großbritannien und Portugal hätten mit einer derartigen Regelung gute Erfahrungen gemacht.

Auf die extrem angespannte Situation auf den Intensivstationen deutscher Krankenhäuser machte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) aufmerksam. Es gebe derzeit pro Station nur noch ein Bett, hieß es. Benötigt werde eine Notbremse, „besser gestern als heute“.

Auch Anne Bunte, Leiterin des Gesundheitsamtes im Kreis Gütersloh, sprach von steigenden Inzidenzen innerhalb kürzester Zeit. Begründet seien diese durch die Virusmutationen. Sie sprach sich für eine bundesweite Regelung aus.

Seitens der Gesellschaft für Aerosolforschung wurde darauf verwiesen, dass 99 Prozent aller Infektionen in Innenräumen stattfänden. Daher müsse sich die Gefahrenabwehr auf diesen Bereich richten.

Eine Verpflichtung für Arbeitgeber zu mehr Home-Office wurde vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) verlangt. Außerdem müsse das Testgeschehen in den Betrieben ausgeweitet werden.

Der Sozialverband Deutschland (VdK) sprach sich für das Ende der Besuchseinschränkungen in Heimen aus. Bei geimpften Heimbewohnern sei dies nicht mehr verfassungsgemäß. In die gleiche Richtung ging auch die Kritik der Caritas.

Für die Beibehaltung der „Click und Collect“ Einkaufsmöglichkeiten, plädierte der Handelsverband Deutschland. Auch die Wissenschaft habe ein generell niedriges Infektionsrisiko im Einzelhandel festgestellt. Eine pauschale Schließung der Non-Food-Geschäfte sehe der Verband kritisch.