Der Europäische Gerichtshof hat am 20.04.2021 zum Aktenzeichen C-896/19 entschieden, dass nationale Vorschriften eines Mitgliedstaats, die dem Premierminister eine entscheidende Befugnis bei der Richterernennung einräumen, aber auch die Beteiligung eines unabhängigen Gremiums vorsehen, das damit betraut ist, die Kandidaten zu beurteilen und eine Stellungnahme zu übermitteln, nicht gegen das Unionsrecht verstößt..
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 66/2021 vom 20.04.2021 ergibt sich:
Repubblika ist ein Verein, dessen Ziel es ist, den Schutz von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit in Malta zu fördern. Nachdem im April 2019 neue Richter ernannt worden waren, erhob Repubblika bei der Prim’Awla tal-Qorti Ċivili – Ġurisdizzjoni Kostituzzjonali (Erste Kammer des Zivilgerichts als Verfassungsgericht, Malta) eine Popularklage, um insbesondere das in der Verfassung vorgesehene Verfahren zur Ernennung maltesischer Richter (Art. 96, 96A und 100 der maltesischen Verfassung) zu beanstanden. Die betreffenden Verfassungsbestimmungen, die von ihrem Erlass im Jahr 1964 bis zur einer Reform von 2016 unverändert geblieben sind, verleihen dem Premierminister die Befugnis, dem Präsidenten der Republik die Ernennung eines Richteramtskandidaten zu unterbreiten. In der Praxis verfügt der Premierminister somit bei der Ernennung der maltesischen Richter über eine entscheidende Befugnis, die nach Auffassung von Repubblika Zweifel an der Unabhängigkeit dieser Richter aufwirft. Allerdings müssen die Kandidaten bestimmte, ebenfalls in der Verfassung vorgesehene Voraussetzungen erfüllen, und seit der Reform von 2016 ist ein Ausschuss für Ernennungen im Justizwesen eingerichtet, der damit betraut ist, die Kandidaten zu beurteilen und dem Premierminister eine Stellungnahme zu übermitteln.
Vor diesem Hintergrund hat das angerufene Gericht beschlossen, den Gerichtshof nach der Vereinbarkeit des maltesischen Richterernennungssystems mit dem Unionsrecht, und zwar konkret mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), zu befragen. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verpflichtet die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist, und Art. 47 der Charta garantiert das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf für jeden Einzelnen, der sich in einem bestimmten Fall auf ein Recht beruft, das er aus dem Unionsrecht herleitet.
Die Große Kammer des Gerichtshofs entscheidet, dass das Unionsrecht nationalen Verfassungsbestimmungen wie den maltesischen Vorschriften über die Ernennung von Richtern nicht entgegensteht. Es ist nämlich nicht ersichtlich, dass diese Vorschriften dazu führen könnten, dass die Richter nicht den Eindruck vermitteln, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.
Würdigung durch den Gerichtshof
In einem ersten Schritt befindet der Gerichtshof, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im vorliegenden Fall anwendbar ist, da mit der Klage die Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsvorschriften in Frage gestellt wird, die das Verfahren zur Ernennung von Richtern regeln, die über Fragen der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben, und da bezüglich dieser Vorschriften geltend gemacht wird, sie seien geeignet, die richterliche Unabhängigkeit zu beeinträchtigen. In Bezug auf Art. 47 der Charta führt der Gerichtshof aus, dass diese Bestimmung als solche zwar nicht anwendbar ist (gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta), da sich Repubblika auf kein subjektives Recht beruft, das ihr nach dem Unionsrecht zustünde, aber dennoch bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu berücksichtigen ist.
In einem zweiten Schritt befindet der Gerichtshof, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nationalen Bestimmungen, die einem Premierminister eine entscheidende Befugnis im Richterernennungsverfahren einräumen, aber auch vorsehen, dass in diesem Verfahren ein unabhängiges Gremium tätig wird, das namentlich damit betraut ist, die Richteramtskandidaten zu beurteilen und dem Premierminister eine Stellungnahme zu übermitteln, nicht entgegensteht.
Zu diesem Ergebnis gelangt der Gerichtshof, indem er zunächst allgemein darauf hinweist, dass unter den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, denen nationale Gerichte, die potenziell über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts entscheiden, gerecht werden müssen, die richterliche Unabhängigkeit von fundamentaler Bedeutung für die Rechtsordnung der Union ist, und zwar aus verschiedenen Gründen. So ist sie essenziell für das reibungslose Funktionieren des Vorabentscheidungsmechanismus gemäß Art. 267 AEUV, der nur durch eine unabhängige Stelle ausgelöst werden kann. Zudem gehört sie zum Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta vorgesehenen Grundrechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und auf ein faires Verfahren.
Sodann erinnert der Gerichtshof an seine jüngere Rechtsprechung (vgl. Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. – Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts, C-585/18, C-624/18 und C-625/18 sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. – Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf – C-824/18), in der er Hinweise zu den nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Richtern erteilt hat. Diese Garantien setzen u. a. voraus, dass es Regeln gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der Richter für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen.
Schließlich hebt der Gerichtshof hervor, dass die Union gemäß Art. 49 EUV aus Staaten besteht, die die in Art. 2 EUV genannten gemeinsamen Werte, wie etwa die Rechtsstaatlichkeit, von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen. Folglich darf ein Mitgliedstaat seine Rechtsvorschriften, insbesondere im Bereich der Justizorganisation, nicht dergestalt ändern, dass der Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit vermindert wird, eines Wertes, der namentlich durch Art. 19 EUV konkretisiert wird. Dementsprechend müssen die Mitgliedstaaten davon absehen, Regeln zu erlassen, die die richterliche Unabhängigkeit untergraben würden.
Nach diesen allgemeinen Hinweisen befindet der Gerichtshof zum einen, dass die Garantie der Unabhängigkeit der maltesischen Richter im Vergleich zu der Situation, die sich aus den zum Zeitpunkt des Beitritts Maltas zur Europäischen Union geltenden Verfassungsbestimmungen ergab, durch die 2016 erfolgte Einrichtung des Ausschusses für Ernennungen im Justizwesen nicht untergraben, sondern im Gegenteil gestärkt wurde. Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Beteiligung eines solchen Gremiums grundsätzlich zu einer Objektivierung des Richterernennungsverfahren beitragen kann, indem sie den Handlungsspielraum einschränkt, über den der Premierminister in diesem Bereich verfügt, vorausgesetzt, dieses Gremium ist selbst hinreichend unabhängig. Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass eine Reihe von Vorschriften geeignet erscheint, diese Unabhängigkeit zu gewährleisten.
Zum anderen hebt der Gerichtshof hervor, dass der Premierminister zwar über eine ihm fest zugeschriebene Befugnis bei der Richterernennung verfügt, die Ausübung dieser Befugnis jedoch durch die von den Richteramtskandidaten zu erfüllenden, in der Verfassung vorgesehenen
Voraussetzungen in Bezug auf Berufserfahrung eingegrenzt wird. Im Übrigen kann der Premierminister zwar beschließen, dem Präsidenten der Republik die Ernennung eines Kandidaten zu unterbreiten, der nicht vom Ausschuss für Ernennungen im Justizwesen vorgeschlagen wurde, doch ist er in einem solchen Fall verpflichtet, seine Gründe u. a. der Legislative mitzuteilen. Soweit der Premierminister von dieser Befugnis nur ganz ausnahmsweise Gebrauch macht und die Begründungspflicht strikt und effektiv einhält, ist diese Befugnis nicht geeignet, berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit der ausgewählten Kandidaten zu wecken.