Der Europäische Gerichtshof hat am 25.03.2021 zu den Aktenzeichen C-586/16 P, C-588/16 P, C-591/16 P, C-601/16, C-611/16 P und C-614/16 P die Rechtsmittel mehrerer Arzneimittelhersteller zurückgewiesen, die an einem Kartell zur Verzögerung des Inverkehrbringens eines Generikums des Antidepressivums Citalopram beteiligt waren. Die Europäische Kommission hatte Geldbußen von nahezu 150 Millionen Euro gegen sie verhängt.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 49/2021 vom 25.03.2021 ergibt sich:
Seit Ende der 1970er Jahre hat das dänische Pharmaunternehmen Lundbeck ein Antidepressivum mit dem Wirkstoff Citalopram entwickelt und patentieren lassen. Nach Ablauf seines Grundpatents an diesem Molekül hielt Lundbeck nur mehr eine gewisse Anzahl von Sekundärpatenten, die ihr einen eingeschränkteren Schutz gewährten. Hersteller von Generika von Citalopram konnten daher einen Markteintritt in Erwägung ziehen.
Im Jahr 2002 schloss Lundbeck Vereinbarungen mit in der Herstellung oder im Verkauf von Generika tätigen Unternehmen. Als Gegenleistung für die Verpflichtung der Generikaunternehmen, nicht in den Markt von Citalopram einzutreten, gewährte ihnen Lundbeck hohe Zahlungen und kaufte insbesondere ihre Generikavorräte auf.
Im Oktober 2003 wurde die Kommission vom Konkurrence- og Forbrugerstyrelsen (KFST, dänische Wettbewerbs- und Verbraucherbehörde) über die in Rede stehenden Vereinbarungen unterrichtet. Im Anschluss an eine im Januar 2008 eingeleitete Untersuchung des Wirtschaftszweigs, auf die eine Untersuchung speziell der in Rede stehenden Vereinbarungen folgte, stellte die Kommission mit Beschluss vom 19. Juni 2013 (Rechtssache AT/39226 – Lundbeck) fest, dass Lundbeck und die betroffenen Generikahersteller zumindest potenzielle Wettbewerber seien und dass die streitigen Vereinbarungen „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkungen darstellten. Die Beträge, die von Lundbeck zur Verhinderung des Eintritts dieser Hersteller in den Markt für Citalopram gezahlt wurden, entsprächen ungefähr den Gewinnen, die sie bei einem erfolgreichen Markteintritt hätten erzielen können. Die Kommission verhängte daher Gesamtgeldbußen in Höhe von 93,7 Millionen Euro gegen Lundbeck und von 52,2 Millionen Euro gegen die Generikahersteller.
Die Klagen, die die Unternehmen beim Gericht der Europäischen Union gegen den Beschluss der Kommission erhoben hatten, wurden mit mehreren Urteilen vom 8. September 2016 (T-460/13, T-467/13, T-469/13, T-470/13, T-471/13, T-472/13) abgewiesen.
Die Unternehmen haben beim Gerichtshof Rechtsmittel eingelegt und die Aufhebung der Urteile des Gerichts sowie die Nichtigerklärung des Beschlusses der Kommission beantragt.
Der EuGH hat mit Urteil vom 25.03.2021 sämtliche Rechtsmittel zurückgewiesen.
Erstens hat das Gericht nach Ansicht des Gerichtshofs mit der Bestätigung der Beurteilung der Kommission, dass Lundbeck und die Generikahersteller zum Zeitpunkt des Abschlusses der Vereinbarungen potenzielle Wettbewerber gewesen seien, keinen Fehler begangen.
Um zu beurteilen, ob ein auf einem Markt nicht vertretenes Unternehmen mit einem oder mehreren anderen dort bereits vertretenen Unternehmen in einem Verhältnis des potenziellen Wettbewerbs steht, muss nach Auffassung des Gerichtshofs festgestellt werden, ob für das nicht auf dem Markt vertretene Unternehmen reale und konkrete Möglichkeiten bestehen, in den Markt einzutreten und mit den auf dem Markt vertretenen Unternehmen in Wettbewerb zu treten. Es braucht nicht festgestellt zu werden, dass das Unternehmen tatsächlich in den betreffenden Markt eintreten wird, oder gar, dass es sich in der Folge auf dem Markt behaupten kann.
Sind solche Vereinbarungen im Kontext der Öffnung des Markts für ein Arzneimittel, das einen seit Kurzem gemeinfreien Wirkstoff enthält, geschlossen worden, ist zu prüfen, ob der Generikahersteller nachweislich fest entschlossen und aus eigener Kraft in der Lage ist, in den Markt einzutreten, und dem nicht unüberwindliche Schranken entgegenstehen.
Speziell zu der Beurteilung der Frage, ob unüberwindliche Marktzutrittsschranken bestehen, weist der Gerichtshof darauf hin, dass ein Patent für ein Verfahren zur Herstellung eines gemeinfreien Wirkstoffs für sich genommen keine unüberwindliche Schranke darstellt.
Folglich steht dieses Patent für sich genommen der Einstufung des Generikaherstellers als potenzieller Wettbewerber des Herstellers des Originalpräparats nicht entgegen, sofern der Generikahersteller fest entschlossen und aus eigener Kraft in der Lage ist, in den Markt einzutreten, und, wie seine Maßnahmen zeigen, bereit ist, das Patent anzufechten und sich beim Eintritt in den Markt einer Verletzungsklage des Patentinhabers auszusetzen. Im Übrigen stellt der Gerichtshof klar, dass die Wettbewerbsbehörde nicht zu prüfen hat, wie stark das Patent ist oder wie wahrscheinlich es ist, dass in einem Rechtsstreit zwischen dem Patentinhaber und einem Generikahersteller festgestellt wird, dass das Patent gültig ist oder verletzt worden ist.
Zweitens hält der Gerichtshof fest, dass die Feststellung des Gerichts, dass die streitigen Vereinbarungen bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen darstellen, rechtlich nicht zu beanstanden ist.
Hierzu stellt der Gerichtshof klar, dass solche Vereinbarungen als „bezweckte Beschränkung“ einzustufen sind, wenn ihre Prüfung ergibt, dass sich die Wertübertragungen vom Hersteller des Originalpräparats ins Vermögen der Generikahersteller allein durch das gemeinsame geschäftliche Interesse der Beteiligten an der Vermeidung von Leistungswettbewerb erklären lassen. In jedem Einzelfall ist zu bestimmen, ob der positive Nettosaldo der übertragenen Werte hoch genug ist, um die Generikahersteller tatsächlich dazu zu veranlassen, vom Eintritt in den Markt abzusehen und nicht mit dem Hersteller des Originalpräparats in Leistungswettbewerb zu treten. Der positive Nettosaldo muss nicht unbedingt höher sein als die Gewinne, die der Generikahersteller erzielt hätte, wenn er im Patentrechtsstreit obsiegt hätte. Der Gerichtshof stellt außerdem klar, dass es für die Einstufung von Vereinbarungen als bezweckte Beschränkung nicht darauf ankommt, ob die Parteien der Vereinbarung potenzielle Wettbewerber waren, wie stark die in Rede stehenden Verfahrenspatente waren und welche Erfolgsaussichten die eine oder andere Partei der Vereinbarung hatte, wenn die Wertübertragungen hoch genug sind.
Der Gerichtshof stellt außerdem fest, dass es für die Einstufung der streitigen Vereinbarungen als „bezweckte Beschränkungen“ nicht zwingend erforderlich ist, dass Vereinbarungen gleicher Art von der Kommission bereits geahndet worden sind, auch wenn die streitigen Vereinbarungen in dem besonderen Kontext der Rechte des geistigen Eigentums geschlossen worden sind.
Dem Gerichtshof zufolge kommt es für eine Einstufung einer bestimmten Vereinbarung als „bezweckte Beschränkung“ allein auf die Wesensmerkmale der Vereinbarung an, aus denen auf eine etwaige Schädigung des Wettbewerbs zu schließen ist, gegebenenfalls nach eingehender Prüfung der Vereinbarung, ihrer Ziele sowie ihres wirtschaftlichen und rechtlichen Umfelds. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass die streitigen Vereinbarungen, die es ermöglicht haben, den Markteintritt von Generikaherstellern zu verzögern, und die mit Zahlungen von Lundbeck verbunden waren, die aufgrund ihrer Höhe die Generikahersteller veranlasst haben, sich nicht weiter um den Markteintritt zu bemühen, zu dieser Kategorie besonders wettbewerbsschädlicher Praktiken gehören.
Drittens stellt der Gerichtshof fest, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, indem es Xellia Pharmaceuticals und Alpharma eine Sorgfaltspflicht auferlegt, die sich aus einer Rechtsprechung ergibt, die auf die Situation, in der sie sich befanden, nicht anwendbar ist.
Das Gericht hat entschieden, dass die Generikahersteller nicht geltend machen könnten, dass ihre Verteidigungsrechte wegen der überlangen Dauer des Verwaltungsverfahrens verletzt worden seien, da sie ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen seien, die sie ab dem Jahr 2003 hätte veranlassen müssen, alle Dokumente aufzubewahren, die für ihre Verteidigung von Nutzen seien.
Indem das Gericht nun Xellia Pharmaceuticals und Alpharma diese nur auf das Verwaltungsverfahren anwendbare Pflicht ab 2003 entgegengehalten hat, obwohl das Verfahren gegen diese Unternehmen erst Anfang der 2010er Jahre eröffnet wurde, hat es einen Rechtsfehler begangen.
Der Gerichtshof hebt die Entscheidung des Gerichts dennoch nicht auf. Erweist sich der Tenor einer Entscheidung des Gerichts, deren Begründung einen Verstoß gegen das Unionsrecht enthält, aus anderen Rechtsgründen als richtig, kann der Gerichtshof die Begründung nämlich durch eine andere ersetzen. Er stellt dazu fest, dass das Gericht Xellia Pharmaceuticals und Alpharma zwar nicht die nur auf das Verwaltungsverfahren anwendbare Sorgfaltspflicht entgegenhalten konnte, diese Unternehmen aber angesichts der von der Kommission im Jahr 2008 eingeleiteten Untersuchung des Wirtschaftszweigs der Generika eine spezifische Pflicht zur Vorsicht hatten. Danach oblag es ihnen, um in auf die Untersuchung des Wirtschaftszweigs gegebenenfalls folgenden Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren über die erforderlichen Beweise zu verfügen, dafür Sorge zu tragen, dass Informationen oder Dokumente, anhand deren ihre Tätigkeit nachverfolgt werden kann, in ihren Geschäftsbüchern oder Archiven ordnungsgemäß aufbewahrt werden.