Nach Ansicht von Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona vom 18.03.2021 im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof zum Aktenzeichen C-848/19 P kann der Grundsatz der Energiesolidarität zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Unionsorgane im Bereich der Energie angewandt werden. Das Rechtsmittel Deutschlands gegen das Urteil des Gerichts, mit dem der Beschluss der Kommission von 2016 zur Änderung der Bedingungen für den Zugang zur OPAL-Gasfernleitung aufgehoben worden sei, sei daher zurückzuweisen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 43/2021 vom 18.03.2021 ergibt sich:
Die Ostseepipeline-Anbindungsleitung (OPAL) ist die westliche terrestrische Anbindung der Gasfernleitung Nord-Stream (über die Gasfernleitung Nord Stream wird das aus russischen Vorkommen stammende Gas durch die Ostsee nach Deutschland transportiert.). Ihr Einspeisepunkt befindet sich in Deutschland und ihr Ausspeisepunkt in der Tschechischen Republik. Im Jahr 2009 entschied die deutsche Bundesnetzagentur (BNetzA), die OPAL-Gasfernleitung für die Dauer von 22 Jahren von den Bestimmungen über den Netzzugang Dritter und die Entgeltregulierung auszunehmen, die derzeit in der Richtlinie 2009/73/EG über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt (ABl. 2009, L 211, 94) enthalten sind. Die Kommission knüpfte diese Ausnahme an bestimmte Bedingungen (Entscheidung K(2009) 4694 vom 12.06.2009), insbesondere die Bedingung, dass ein marktbeherrschendes Unternehmen wie Gazprom nicht mehr als 50 % der grenzüberschreitenden Transportkapazitäten der OPAL-Gasfernleitung buchen darf, es sei denn, das Unternehmen sieht ein Programm vor, mit dem es dem Markt über diese Gasfernleitung eine bestimmte Gasmenge anbietet („Gas-Release-Programm“). Ein solches Programm gelangte jedoch nicht zur Anwendung, so dass nur 50 % der Transportkapazität der OPAL-Gasfernleitung genutzt wurden.
Im Jahr 2016 teilte die BNetzA auf Antrag mehrerer Unternehmen der Gazprom-Gruppe der Kommission ihre Absicht mit, die 2009 gewährte Ausnahme zu ändern. Die Kommission erließ daraufhin einen Beschluss (C(2016) 6950 vom 28.10.2016 zur Überprüfung der nach der Richtlinie 2003/55/EG gewährten Ausnahme der Ostseepipeline-Anbindungsleitung von den Anforderungen für den Netzzugang Dritter und die Entgeltregulierung.), mit dem sie die Bedingungen der Ausnahme änderte, was Gazprom die Nutzung praktisch der gesamten Kapazität der OPAL-Gasfernleitung ermöglichte. Dieser Umstand führte zu einer Verringerung der Gasflüsse, die durch die Gasfernleitungen Yamal und Braterstwo – über die russisches Erdgas über Weißrussland und die Ukraine bis in die Europäische Union transportiert wird – geleitet werden, sowie zu einer Stärkung der Stellung der Gazprom-Gruppe auf den Gasmärkten der Länder Mittel- und Osteuropas.
Polen rief daraufhin das Gericht der Europäischen Union an, das den Beschluss der Kommission von 2016 mit Urteil vom 10.09.2019 (T-883/16) mit der Begründung, er verstoße gegen den in Art. 194 AEUV verankerten Grundsatz der Energiesolidarität, für nichtig erklärte. Dieses Urteil bedeutete eine Rückkehr zu der durch die Entscheidung der Kommission von 2009 eingeführten Ausnahmeregelung, die durch den Bericht des Panels der Welthandelsorganisation (WTO) vom 10. August 2018 in der Streitsache WT/DS476/R, Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten verschiedene Maßnahmen bezüglich des Energiesektors, für teilweise mit dem Recht der WTO unvereinbar erklärt worden war.
Deutschland hat gegen das Urteil des Gerichts ein Rechtsmittel beim Gerichtshof eingelegt und macht im Wesentlichen geltend, dass die Energiesolidarität lediglich ein politischer Begriff und kein rechtliches Kriterium sei, aus dem unmittelbar Rechte und Pflichten für die Union bzw. die Mitgliedstaaten abgeleitet werden könnten, dass die Energiesolidarität eine Beistandspflicht allein in Krisensituationen bedeute und dass die Kommission sie beim Erlass des Beschlusses von 2016 über die OPAL-Gasfernleitung berücksichtigt habe. Polen, unterstützt durch Lettland und Litauen, verteidigt die Auffassung des Gerichts.
Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona analysiert zunächst, bevor er Ausführungen zu den Rechtsmittelgründen macht, die Regelung des Grundsatzes der Solidarität in den Gründungsverträgen und kommt zu dem Schluss, dass die Solidarität im Primärrecht der Union als ein Wert (Art. 2 EUV) und als ein Ziel (Art. 3 EUV) erkennbar sei, die mehr und mehr die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen der Union selbst leiten sollten. Allerdings sei es nicht möglich, aus diesen Bestimmungen eine vollständige und allumfassende Konzeption der Solidarität im Unionsrecht abzuleiten, da es sich um einen Begriff handle, der sowohl an die horizontalen (zwischen Mitgliedstaaten, zwischen Organen, zwischen Völkern bzw. Generationen und zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern) als auch an die vertikalen (zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten) Beziehungen in heterogenen Bereichen anknüpfe.
Der Generalanwalt wirft die Frage auf, ob der Solidarität ein rein symbolischer Wert ohne Gesetzeskraft beizumessen ist, oder ob sie den Rang eines Rechtsgrundsatzes besitzt. Der Gerichtshof habe in seiner Rechtsprechung auf den Grundsatz der Solidarität Bezug genommen, nicht aber dessen Profil allgemein herausgearbeitet. In bestimmten Bereichen, wie z. B. der Einwanderungs-, Asyl- und Grenzkontrollpolitik (Artikel 80 AEUV), habe der Gerichtshof den Grundsatz der Solidarität jedoch ausdrücklich herangezogen, als er beispielsweise über die Verteilung der Kontingente von internationalen Schutz beantragenden Personen zwischen den Mitgliedstaaten habe entscheiden müssen (EUGH, Urt. v. 02.04.2020 – C-715/17, C-718/17 und C-719/17 und EuGH, Urt. v. 06.09.2017 – C-643/15 und C-647/15). Nach Ansicht des Generalanwalts steht nichts dem entgegen, den Grundsatz der Solidarität auch im Bereich der Energiepolitik der Union anzuwenden. In Art. 194 Abs. 1 AEUV sei der Grundsatz der Solidarität als ein Element vorgesehen, das alle Ziele der Energiepolitik der Union durchdringe, und es seien zahlreiche Vorschriften des Sekundärrechts in diesem Bereich erlassen worden, die diesen Grundsatz umfassten.
Unter diesen Prämissen ist der Generalanwalt der Ansicht, dass der erste Rechtsmittelgrund nicht durchgreife, und stellt fest, dass das Gericht zutreffend zu dem Ergebnis gelangt sei, dass der Grundsatz der Energiesolidarität „Rechte und Pflichten sowohl für die Union als auch für die Mitgliedstaaten“ beinhalte. Der in Art. 194 AEUV verankerte Grundsatz der Energiesolidarität entfalte Rechtswirkungen und nicht nur rein politische Wirkungen für die Auslegung der Vorschriften des Sekundärrechts, die die Union in Ausübung ihrer Befugnisse im Bereich der Energie erlassen habe, sowie zur Füllung von Regelungslücken bei diesen Vorschriften und für deren gerichtliche Überprüfung oder die gerichtliche Überprüfung der Entscheidungen, die die Union in diesem Bereich treffe.
Der Generalanwalt führt weiter aus, dass dann, wenn in den Verträgen die rein politische Komponente der Solidarität hervorgehoben werden sollte, dies ausdrücklich erfolgt sei, was aber für den im Bereich der Asylpolitik oder im Bereich der Energie anwendbaren Grundsatz der Solidarität nicht gelte. Da der Gerichtshof den normativen Wert dieses Grundsatzes für die Asylpolitik anerkannt und daraus bestimmte Folgen abgeleitet habe, müsse aus Gründen der Kohärenz für den Bereich der Energie dasselbe gelten.
Der Grundsatz der Energiesolidarität verlange, so der Generalanwalt in Übereinstimmung mit dem Gericht, dass derjenige, der ihn umsetzen müsse – im vorliegenden Fall die Kommission bei der Fassung von Beschlüssen über die Gewährung von Ausnahmen –, die betroffenen Interessen, sowohl die der Mitgliedstaaten als auch die der Union insgesamt, im Einzelfall abwäge. Würden bei dieser Abwägung einer oder mehrere Mitgliedstaaten offensichtlich vergessen, entspreche die Entscheidung der Kommission nicht den Anforderungen dieses Grundsatzes. Die Kontrolle, die der Gerichtshof über Beschlüsse der Kommission wie den hier streitigen nach dem Grundsatz der Energiesolidarität ausüben könne, müsse beschränkt sein, da es sich um Entscheidungen zu komplexen technischen Fragen handle, bei denen die Kommission eine gegenüber den Gerichten weitaus höhere Analysefähigkeit besitze.
Entgegen der von Deutschland vertretenen Auffassung ist der Generalanwalt der Ansicht, dass der zweite Rechtsmittelgrund nicht durchgreife, und stimmt mit dem Gericht dahin überein, dass der Grundsatz der Energiesolidarität über die im AEU-Vertrag vorgesehenen Versorgungskrisensituationen hinaus Rechtswirkungen entfalten könne.
Der Generalanwalt hält den dritten Rechtsmittelgrund für unzulässig, weil Deutschland keine Verfälschung des vom Gericht als erwiesen festgestellten Sachverhalts geltend gemacht habe, wonach die Kommission nicht, wie es der Grundsatz der Solidarität verlange, die Auswirkungen der Änderung der Betriebsregelung der OPAL-Gasfernleitung auf die Versorgung Polens mit Erdgas, auf andere Mitgliedstaaten sowie auf die Union insgesamt vorgenommen habe. Auch der vierte Rechtsmittelgrund greife nicht durch, da das Gericht den Beschluss der Kommission nicht deshalb für nichtig erklärt habe, weil darin der Grundsatz der Energiesolidarität nicht ausdrücklich erwähnt sei, sondern weil die Kommission keine den Anforderungen dieses Grundsatzes angemessene Prüfung vorgenommen habe.