Nach Auffassung von Generalanwalt Pikamäe vom 16.03.2021 im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof zum Aktenzeichen C-28/20 stellt ein von Pilotengewerkschaften organisierter Streik grundsätzlich einen außergewöhnlichen Umstand dar, aufgrund dessen die Fluggesellschaft von ihrer Verpflichtung befreit sein kann, Ausgleichszahlungen wegen Annullierung oder großer Verspätung für die betreffenden Flüge zu leisten.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 39/2021 vom 16.03.2021 ergibt sich:
Für die Befreiung hat die Fluggesellschaft jedoch nachzuweisen, dass sie alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um diese Annullierung oder Verspätung zu vermeiden.
Airhelp, ein Unternehmen, an das ein Fluggast der Fluggesellschaft SAS seinen etwaigen Ausgleichsanspruch nach der Fluggastrechteverordnung (Nr. 261/2004 – ABl. 2004, L 46, S. 1) abgetreten hat, begehrt von dieser Gesellschaft einen Ausgleich in Höhe von 250 Euro, weil der am 29. April 2019 geplante Flug, den der Fluggast von Malmö nach Stockholm nehmen sollte, am selben Tag wegen eines Streiks von SAS-Piloten in Norwegen, Schweden und Dänemark annulliert wurde. SAS vertritt die Ansicht, sie sei nicht verpflichtet, die geforderte Ausgleichszahlung zu leisten, da der Streik einen „außergewöhnlichen Umstand“ darstelle, der sich auch dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
Der Streik der Piloten wurde durch deren Gewerkschaften organisiert, nachdem diese den bisherigen Tarifvertrag mit SAS, der 2020 hätte auslaufen sollen, vorzeitig gekündigt hatten. Verhandlungen über einen neuen Tarifvertrag liefen seit März 2019. Der Streik dauerte sieben Tage – vom 26. April 2019 bis zum 2. Mai 2019 – und veranlasste SAS, mehr als 4 000 Flüge zu annullieren, wovon ca. 380 000 Fluggäste betroffen waren. Es handele sich – so SAS – um einen der größten Streiks der Luftverkehrsbranche, der je verzeichnet worden sei. Wenn jeder der Fluggäste Anspruch auf die pauschale Ausgleichszahlung gehabt hätte, hätte dies nach den Berechnungen von SAS Kosten in Höhe von ca. 117 000 000 Euro zur Folge.
Das von Airhelp angerufene Attunda tingsrätt (Gericht erster Instanz Attunda, Schweden) hat den Gerichtshof um Auslegung der Fluggastrechteverordnung gebeten.
In seinen heutigen Schlussanträgen vertritt Generalanwalt Priit Pikamäe erstens die Auffassung, dass ein Streik, der auf den Aufruf einer Gewerkschaft im Rahmen der Ausübung des Streikrechts durch die Belegschaft der Fluggesellschaft organisiert werde, um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einzufordern, einen befreienden „außergewöhnlichen Umstand“ (im Urteil Krüsemann u. a. vom 17. April 2018 – C-195/17 u. a..) hatte der Gerichtshof entschieden, dass die Ausrufung eines „wilden Streiks“, der von den Arbeitnehmern selbst (und nicht von einer Gewerkschaft) als Reaktion auf die „überraschende Ankündigung“ der Fluggesellschaft, das Unternehmen umzustrukturieren, organisiert wurde, keinen „außergewöhnlichen Umstand“ darstellt; im Hinblick auf die erheblichen tatsächlichen Unterschiede lässt sich diese Beurteilung nach Ansicht des Generalanwalts auf die vorliegende Rechtssache nicht übertragen) darstelle, sofern er nicht durch eine vorherige Entscheidung des Unternehmens, sondern durch die Forderungen der Arbeitnehmer ausgelöst werde.
Ein solcher Streik erfülle – so der Generalanwalt – die beiden vom Gerichtshof für diese Einstufung festgelegten Kriterien, da er nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der Fluggesellschaft sei und von ihr tatsächlich nicht zu beherrschen sei.
Die Entscheidung, einen Streik auszurufen, werde nämlich von den Gewerkschaftsvertretern der Arbeitnehmer im Rahmen ihrer Tarifautonomie getroffen und liege somit außerhalb der Entscheidungsstrukturen der betroffenen Fluggesellschaft. Obwohl Streiks zum wirtschaftlichen Leben eines jeden Unternehmens gehörten, habe dieses keine Kontrolle über die Entscheidungen einer Gewerkschaft. Daraus folge, dass die Fluggesellschaft in der Regel keinen rechtlich bedeutsamen Einfluss darauf habe, ob ein Streik stattfinde, selbst wenn es sich um ihre eigene Belegschaft handele.
Der Generalanwalt stellt fest, dass die Interessen der Sozialpartner durch die Unionsrechtsordnung grundsätzlich in gleicher Weise geschützt seien. Als Arbeitgeber habe die Fluggesellschaft das Recht und die Verantwortung, im Rahmen der Tarifautonomie der Sozialpartner eine Vereinbarung mit den Arbeitnehmern auszuhandeln. Dagegen könne sie für die Folgen kollektiver Maßnahmen der Belegschaft nicht allein verantwortlich gemacht werden. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass der Ausgleichsanspruch von Fluggästen für Arbeitskämpfe „instrumentalisiert“ werde.
Zweitens weist der Generalanwalt darauf hin, dass eine Fluggesellschaft aufgrund eines „außergewöhnlichen Umstands“ von ihrer Ausgleichspflicht nur dann befreit sei, wenn sie nachweisen könne, dass sie alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, um die Annullierung oder große Verspätung eines Flugs zu verhindern. Angesichts der Kapazitäten ihres Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt könnten von ihr jedoch keine nicht tragbaren Opfer verlangt werden.
Daher hat die Fluggesellschaft nach Auffassung des Generalanwalts alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um ihre Interessen und mittelbar die der Fluggäste zu wahren, auch bei den zuständigen Gerichten zu beantragen, die Rechtswidrigkeit der kollektiven Maßnahmen festzustellen und gegebenenfalls deren Beendigung anzuordnen. Darüber hinaus müsse sie eine ausreichende Zeitreserve vorsehen, um etwaige unvorhergesehene Umstände aufzufangen, der Vorankündigung des von der Gewerkschaft ausgerufenen Streiks Rechnung tragen, ihre materiellen und personellen Ressourcen organisieren, um eine Kontinuität des Betriebs zu gewährleisten, und den Zugang zu Flügen anderer Fluggesellschaften erleichtern.