Generalanwalt Hogan schlägt dem Europäischen Gerichtshof vor, zu entscheiden, dass der Rat, auch wenn die Europäische Union das Übereinkommen von Istanbul bereits unterzeichnet hat, berechtigt, aber nicht verpflichtet ist, die einstimmige Entscheidung aller Mitgliedstaaten, durch dieses Übereinkommen gebunden zu sein, abzuwarten, bevor er entscheidet, ob und inwieweit die Union dem Übereinkommen beitreten wird.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 37/2021 vom 11.03.2021 ergibt sich:
Ferner vertritt der Generalanwalt die Auffassung, dass das Übereinkommen von Istanbul auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2, Art. 82 Abs. 2, Art. 84 und Art. 336 AEUV mittels zweier gesonderter Beschlüsse abgeschlossen werden könne.
Das Übereinkommen von Istanbul zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wurde am 7. April 2011 vom Europarat verabschiedet und am 11. Mai 2011 zur Unterzeichnung aufgelegt. Ein erster Vorschlag der Kommission für einen Beschluss des Rates über die Unterzeichnung des Übereinkommens von Istanbul im Namen der Europäischen Union erhielt nicht die erforderliche Unterstützung durch die Mitglieder des Rates. Daher wurde beschlossen, den Umfang des von der Union vorgeschlagenen Abschlusses des Übereinkommens von Istanbul zu reduzieren und ihn auf diejenigen Zuständigkeiten zu beschränken, bei denen davon ausgegangen wurde, dass sie in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fielen. Um der besonderen Stellung Irlands und des Vereinigten Königreichs nach dem dem EU- und dem AEU-Vertrag beigefügten Protokoll Nr. 21 Rechnung zu tragen, wurde ferner entschieden, den Vorschlag der Kommission für einen Beschluss des Rates zur Unterzeichnung des Übereinkommens von Istanbul in zwei gesonderte Beschlüsse aufzuspalten.
Der Rat nahm diese beiden Beschlüsse am 11. Mai 2017 an. Gegenstand des ersten Beschlusses ist die Unterzeichnung des Übereinkommens von Istanbul durch die Union hinsichtlich seiner Bestimmungen, die in die Zuständigkeit der Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen fallen. In diesem Beschluss sind als materielle Rechtsgrundlagen Art. 82 Abs. 2 und Art. 83 Abs. 1 AEUV angegeben (Beschluss (EU) 2017/865, ABl. 2017, L 131, 11). Der zweite Beschluss umfasst diejenigen Aspekte des Übereinkommens, die mit Asyl und dem Verbot der Zurückweisung zusammenhängen. Als materielle Rechtsgrundlage ist darin Art. 78 Abs. 2 AEUV angegeben (Beschluss (EU) 2017/866, ABl. 2017, L 131, 13). Die Erwägungsgründe beider Beschlüsse des Rates enthalten Bezugnahmen auf die Zuständigkeiten der Union und ihrer Mitgliedstaaten.
Am 9. Juli 2019 beantragte das Europäische Parlament nach Art. 218 Abs. 11 AEUV ein Gutachten des Gerichtshofs zum Beitritt der Europäischen Union zum Übereinkommen von Istanbul. Mit seiner ersten Frage möchte das Europäische Parlament wissen, welche Bestimmungen des AEUV die geeigneten Rechtsgrundlagen des Rechtsakts des Rates über den Abschluss des Übereinkommens von Istanbul im Namen der Union sind. Ferner möchte es wissen, ob es notwendig oder möglich ist, zwei gesonderte Beschlüsse über die Unterzeichnung und den
Abschluss des Übereinkommens anzunehmen. Mit seiner zweiten Frage möchte das Europäische Parlament wissen, ob der Abschluss des Übereinkommens von Istanbul durch die Union gemäß Art. 218 Abs. 6 AEUV mit den Verträgen vereinbar ist, obwohl eine einstimmige Entscheidung aller Mitgliedstaaten, durch das Übereinkommen gebunden zu sein, noch nicht erzielt wurde.
In seinen am 11.03.2021 verlesenen Schlussanträgen schlägt Generalanwalt Gerard Hogan dem Gerichtshof vor, die vom Europäischen Parlament vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:
Sollten die Absichten des Rates in Bezug auf den Umfang der geteilten Zuständigkeiten, die beim Abschluss des Übereinkommens von Istanbul ausgeübt werden sollen, unverändert bleiben, ist der Beschluss zur Ermächtigung zu diesem Abschluss im Namen der Union auf Art. 78 Abs. 2, Art. 82 Abs. 2, Art. 84 und Art. 336 AEUV als materielle Rechtsgrundlagen zu stützen.
Der Abschluss des Übereinkommens von Istanbul durch die Union in Gestalt zweier gesonderter Beschlüsse ist nicht geeignet, zur Ungültigkeit dieser Rechtsakte zu führen.
Der Beschluss der Union zum Abschluss des Übereinkommens von Istanbul wäre mit den Verträgen vereinbar, falls er ohne einstimmige Entscheidung aller Mitgliedstaaten, durch dieses Übereinkommen gebunden zu sein, angenommen würde. Ferner wäre er jedoch ebenso mit den Verträgen vereinbar, falls er erst nach dem Zustandekommen einer solchen einstimmigen Entscheidung angenommen würde. Die Entscheidung, welcher dieser beiden Lösungen der Vorzug gebührt, ist ausschließlich Sache des Rates.
Nach Auffassung des Generalanwalts sollten alle dem Gerichtshof vom Europäischen Parlament vorgelegten Fragen als zulässig angesehen werden; ausgenommen hiervon sei der zweite Teil der ersten Frage, jedoch nur insoweit, als er sich auf den Beschluss über die Unterzeichnung des Übereinkommens von Istanbul beziehe. Da das Europäische Parlament die Gültigkeit der Unterzeichnungsbeschlüsse nicht, wie es ihm möglich gewesen wäre, angefochten habe und diese daher bestandskräftig geworden seien, könne es nämlich vom Gutachtenverfahren keinen Gebrauch machen, um damit die Frist für eine Nichtigkeitsklage zu umgehen.
Zu den geeigneten Rechtsgrundlagen für den Abschluss des Übereinkommens von Istanbul
Der Generalanwalt schlägt vor, der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu folgen, wonach ein Rechtsakt dann, wenn er mehrere Zielsetzungen verfolge oder mehrere Komponenten umfasse, grundsätzlich auf eine einzige Rechtsgrundlage und ausnahmsweise auf mehrere Rechtsgrundlagen zu stützen sei, nämlich diejenigen, die den überwiegenden oder zumindest hauptsächlichen Zielsetzungen oder Komponenten dieses Rechtsakts entsprächen. Es sei folglich unerheblich, ob beim Erlass des betreffenden Rechtsakts weitere Zuständigkeiten ausgeübt worden seien, solange diese anderen Zuständigkeiten Zielsetzungen oder Komponenten dieses Rechtsakts beträfen, die von untergeordneter Bedeutung seien.
Des Weiteren ist der Generalanwalt der Ansicht, dass es in dem Fall, dass die Union nicht beabsichtige, ihre Zuständigkeiten in vollem Umfang auszuüben, wichtig sei, zwischen dem Beschluss zur Genehmigung des Abschlusses einer internationalen Übereinkunft und der Übereinkunft selbst zu unterscheiden. Angesichts dessen, dass der Rat hinsichtlich des Beitritts zum Übereinkommen von Istanbul eindeutig anstrebe, dass die Union nur einen Teil ihrer Zuständigkeiten ausübe, sei dieses Übereinkommen nicht in seiner Gesamtheit, sondern nur in denjenigen Teilen zu betrachten, die aus Sicht des Unionsrechts für die Union verbindlich würden.
In dieser Hinsicht führt Generalanwalt Hogan aus, dass es in der vorliegenden Rechtssache keiner abschließenden Entscheidung darüber bedürfe, ob die Union, wie der Rat meine, für den Abschluss des Übereinkommens von Istanbul in den Bereichen Asyl und Einwanderung sowie justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen ausschließlich zuständig und folglich verpflichtet sei, diese Zuständigkeiten auszuüben. Die vom Europäischen Parlament gestellte Frage beruhe auf der Prämisse, dass die Union ihre Zuständigkeiten zumindest auf den Gebieten Asyl und Einwanderung sowie justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen ausüben werde.
Nach einer Untersuchung der Zielsetzungen und Komponenten des Übereinkommens von Istanbul weist Generalanwalt Hogan darauf hin, dass der Abschluss des Übereinkommens von Istanbul durch die Union eine Vielzahl von Zuständigkeiten betreffen dürfte, über die sie allein oder gemeinsam mit den Mitgliedstaaten verfüge, so dass eine Vielzahl von Rechtsgrundlagen nach dem AEUV theoretisch relevant sein könne. Jedoch müssten die Rechtsgrundlagen eines Rechtsakts nicht alle für seinen Erlass ausgeübten Zuständigkeiten widerspiegeln. Der Beschluss zur Genehmigung des Abschlusses des Übereinkommens von Istanbul durch die Union müsse lediglich auf die Rechtsgrundlage/n gestützt werden, die dem (künftigen) Schwerpunkt dieses Beschlusses entspreche/entsprächen. Um eine solche Rechtsgrundlage zu bestimmen, seien nicht nur die Zielsetzungen und Komponenten dieses Übereinkommens zu berücksichtigen, sondern auch die diesem Beschluss selbst zugrunde liegenden spezielleren Zielsetzungen und Komponenten.
Generalanwalt Hogan untersucht auch die Relevanz anderer als der vom Europäischen Parlament in seiner Frage genannten Rechtsgrundlagen, indem er verschiedene Zuständigkeiten prüft, die durch das Übereinkommen von Istanbul voraussichtlich berührt werden. Sodann schlägt er dem Gerichtshof vor, die erste Frage dahin zu beantworten, dass in Anbetracht des vom Rat geplanten Umfangs des Abschlusses der Beschluss zur Ermächtigung der Union zur Vornahme dieses Abschlusses auf Art. 78 Abs. 2, Art. 82 Abs. 2, Art. 84 und Art. 336 AEUV zu stützen ist.
Zur Frage, ob die Ermächtigung zum Abschluss des Übereinkommens von Istanbul in Gestalt zweier gesonderter Beschlüsse erteilt werden kann
Generalanwalt Hogan führt aus, dass die Frage des Europäischen Parlaments die künftige formelle Gültigkeit des Beschlusses zum Abschluss des Übereinkommens von Istanbul betreffe. Insoweit sei darauf hinzuweisen, dass nach Art. 263 AEUV die formelle Gültigkeit eines Rechtsakts nur in Frage gestellt werden könne, wenn eine wesentliche Formvorschrift verletzt worden sei. Es sei aber nicht ersichtlich, dass der Abschluss des Übereinkommens von Istanbul in Form zweier Beschlüsse anstelle eines einzigen Auswirkungen auf die anzuwendenden Abstimmungsregeln haben könnte, wie es in einem früheren Urteil des Gerichtshofs der Fall gewesen sei.
Erstens falle nämlich, unabhängig von der Zahl der zu erlassenden Beschlüsse, der Erlass aller dieser Beschlüsse in die Zuständigkeit der Union. Zweitens sei, was die Abstimmungsmodalitäten angehe, darauf hinzuweisen, dass die Aufspaltung einer Entscheidung in zwei gesonderte Rechtsakte zur Ungültigkeit des Abschlusses einer internationalen Übereinkunft führen könnte, wenn der erste zu erlassende Rechtsakt nach einer bestimmten Abstimmungsregelung und der zweite nach einer anderen Abstimmungsregelung erlassen würde, sofern dann, wenn nur ein Rechtsakt erlassen worden wäre, nur eine einzige Regelung zur Anwendung gekommen wäre. In der vorliegenden Rechtssache führten jedoch alle in Rede stehenden Rechtsgrundlagen zur Anwendung desselben Verfahrens.
Generalanwalt Hogan schlägt dem Gerichtshof daher vor, die Frage des Europäischen Parlaments dahin zu beantworten, dass der Abschluss des Übereinkommens von Istanbul durch die Union in Form zweier gesonderter Rechtsakte nicht geeignet ist, zur Ungültigkeit dieser Rechtsakte zu führen.
Zur Frage der Gültigkeit eines Beschlusses des Rates zum Abschluss des Übereinkommens von Istanbul, falls bei seiner Annahme eine einstimmige Entscheidung aller Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Zustimmung, durch dieses Übereinkommen gebunden zu sein, noch nicht erzielt wurde
In dieser Hinsicht gelangt Generalanwalt Hogan zu dem Schluss, dass der Rat nicht verpflichtet sei, die einstimmige Entscheidung der Mitgliedstaaten abzuwarten, und ebenso wenig verpflichtet sei, eine internationale Übereinkunft, wie etwa das Übereinkommen von Istanbul, unmittelbar nach der Unterzeichnung durch ihn abzuschließen. Vielmehr stehe es dem Rat frei, anhand von Faktoren wie etwa der Frage, inwieweit das Risiko einer ungerechtfertigten Nichterfüllung der betreffenden gemischten Übereinkunft durch einen Mitgliedstaat bestehe, zu beurteilen, ob die Möglichkeit bestehe, die notwendige Mehrheit im Rat einzuholen, um die geteilten Zuständigkeiten allein auszuüben.
Der Generalanwalt schlägt daher vor, die zweite Frage dahin zu beantworten, dass der Beschluss der Union zum Abschluss des Übereinkommens von Istanbul mit den Verträgen vereinbar wäre, falls er ohne einstimmige Entscheidung aller Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Zustimmung, durch dieses Übereinkommen gebunden zu sein, angenommen würde, dass er jedoch ebenso mit den Verträgen vereinbar wäre, falls er erst nach dem Zustandekommen einer solchen einstimmigen Entscheidung angenommen würde. Die Entscheidung, welcher dieser beiden Lösungen der Vorzug gebühre, sei ausschließlich Sache des Rates.