Nach Ansicht von Generalanwalt Bobek vor dem Europäischen Gerichtshof in den Verfahren C-357/19, C-547/19 CY, C-379/19 DANN, C-811/19 und C-840/19 sind Entscheidungen eines Verfassungsgerichts, mit denen die Rechtswidrigkeit der Besetzung von Spruchkörpern eines obersten Gerichts wegen Verletzung des Rechts auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht sowie die Verfassungswidrigkeit technischer Überwachungsmaßnahmen durch den Inlandsnachrichtendienst in Strafverfahren festgestellt wird, mit dem Unionsrecht vereinbar.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 33/2021 vom 04.03.2021 ergibt sich:
Das Unionsrecht stehe jedoch einer Entscheidung, mit der die Rechtswidrigkeit der Besetzung von Spruchkörpern eines obersten Gerichts mit der Begründung festgestellt werde, dass die Spruchkörper nicht spezialisiert seien, entgegen, wenn eine solche Feststellung den wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union beeinträchtigen könne.
Im Jahr 2019 haben mehrere rumänische Gerichte dem Gerichtshof Fragen betreffend die richterliche Unabhängigkeit, die Rechtsstaatlichkeit und die Korruptionsbekämpfung vorgelegt. Die erste Gruppe von Rechtssachen betraf verschiedene Änderungen der nationalen Gesetze über das Justizwesen, die zumeist durch Dringlichkeitsverordnungen erfolgten (Schlussanträge vom 23. September 2020, Asociaţia „Forumul Judecătorilor Din România“ u. a., verbundene Rechtssachen C-83/19, C-127/19 und C-195/1, Rechtssache C-291/19, Rechtssache C-355/19 und Rechtssache C-397/19).
Die vorliegenden Rechtssachen bilden eine zweite Gruppe, deren Hauptthema die Frage betrifft, ob Entscheidungen der Curtea Constituțională a României (Verfassungsgericht Rumäniens) gegen die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und der Rechtsstaatlichkeit sowie gegen den Schutz der finanziellen Interessen der Union verstoßen können.
Erstens erließ das Verfassungsgericht am 7. November 2018 die Entscheidung Nr. 685/2018, mit der im Wesentlichen festgestellt wurde, dass einige Spruchkörper des obersten nationalen Gerichts, der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien, im Folgenden: ÎCCJ), nicht ordnungsgemäß besetzt worden seien. Diese Entscheidung hatte zur Folge, dass einige der betroffenen Verfahrensbeteiligten außerordentliche Rechtsbehelfe einlegen konnten, was wiederum zu Fragen nicht nur in Bezug auf den Schutz der finanziellen Interessen der Union gemäß Art. 325 Abs. 1 AEUV, sondern auch auf die Auslegung des Begriffs „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ in Art. 47 Abs. 2 der Charta führte.
Zweitens erließ das Verfassungsgericht am 16. Februar 2016 die Entscheidung Nr. 51/2016, mit der die Beteiligung von Inlandsnachrichtendiensten an der Durchführung technischer Überwachungsmaßnahmen zu Zwecken strafrechtlicher Ermittlungshandlungen für verfassungswidrig erklärt wurde, was zum Ausschluss solcher Beweise aus dem Strafverfahren führte.
Drittens erließ das Verfassungsgericht am 3. Juli 2019 die Entscheidung Nr. 417/2019, mit der festgestellt wurde, dass die ÎCCJ ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Einrichtung spezialisierter Spruchkörper mit erstinstanzlicher Zuständigkeit für Korruptionsdelikte nicht nachgekommen sei.
Dies hat die erneute Verhandlung in bereits abgeurteilten Korruptionssachen, die mit der Verwaltung von Unionsmitteln in Zusammenhang stehen, zur Folge.
Mit den verschiedenen, in den vorliegenden Rechtssachen vorgelegten Fragen möchten die ÎCCJ und das Tribunalul Bihor (Landgericht Bihor, Rumänien) vom Gerichtshof wissen, ob die Entscheidungen Nr. 685/2018, Nr. 51/2016 und Nr. 417/2019 des Verfassungsgerichts mit bestimmten Vorschriften und Grundsätzen des Unionsrechts vereinbar sind (Art. 325 Abs. 1 AEUV, das PIF-Übereinkommen, Art. 47 der Charta, Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56–57).
Entscheidung Nr. 685/2018
In seinen heutigen Schlussanträgen schlägt Generalanwalt Michal Bobek dem Gerichtshof erstens vor, zu entscheiden, dass das Unionsrecht (Art. 47 Abs. 2 der Charta, Art. 325 Abs. 1 AEUV sowie Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b und Art. 2 Abs. 1 des PIF-Übereinkommens und der unionsrechtliche Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit) einer Entscheidung eines nationalen Verfassungsgerichts, mit der die Besetzung von Spruchkörpern des obersten nationalen Gerichts mit der Begründung für unrechtmäßig erklärt wird, dass das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht verletzt worden sei, nicht entgegensteht selbst wenn sie die Zulassung außerordentlicher Rechtsbehelfe gegen rechtskräftige Urteile zur Folge hat.
Der Generalanwalt weist zunächst darauf hin, dass die Frage der Besetzung gerichtlicher Spruchkörper und die Frage der Rechtsbehelfe, die im Fall eines Verstoßes gegen nationale Vorschriften zur Verfügung stünden, nicht durch das Unionsrecht geregelt seien, so dass die Mitgliedstaaten ihren Ermessensspielraum behielten. Daher stehe das Unionsrecht dem nicht entgegen, dass ein nationales Verfassungsgericht in einer Situation, die nicht vollständig durch das Unionsrecht geregelt werde, in Anwendung eines ernsthaften und vernünftigen Standards des Schutzes der verfassungsmäßigen Rechte feststelle, dass die Spruchkörper des obersten nationalen Gerichts nicht im Einklang mit dem Gesetz errichtet worden seien.
Betreffend den Schutz der finanziellen Interessen der Union weist der Generalanwalt darauf hin, dass Art. 325 Abs. 1 AEUV die Mitgliedstaaten verpflichte, gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen durch wirksame und abschreckende Maßnahmen zu bekämpfen.
Insoweit bestehe das maßgebliche Kriterium darin, ob eine nationale Vorschrift, Rechtsprechung oder Praxis aus normativer Sicht und ungeachtet ihrer tatsächlichen Auswirkung in Bezug auf die Anzahl betroffener Fälle den wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union beeinträchtigen könne. Für diese Beurteilung seien die folgenden Elemente heranzuziehen: erstens die normative und systematische Bewertung des Inhalts der betreffenden Vorschriften, zweitens ihr Zweck sowie der nationale Kontext, drittens ihre vernünftigerweise wahrnehmbaren oder erwarteten praktischen Folgen und viertens Grundrechte sowie der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit, die Teil des inneren Ausgleichs bei der Auslegung von Art. 325 Abs. 1 AEUV für die Beurteilung der Vereinbarkeit der nationalen Vorschriften und Praxis mit dieser Bestimmung seien.
Der Generalanwalt weist darauf hin, dass die Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts bei einer Beurteilung anhand dieser Kriterien nicht geeignet erscheine, den wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union zu beeinträchtigen. Erstens schaffe sie weder neue Rechtsbehelfe noch ändere sie das bestehende Rechtsbehelfssystem ab. Zweitens deute nichts darauf hin, dass ihr Zweck darin bestehen würde, die Rechtsinstrumente, die zur Bekämpfung der Korruption zur Verfügung stünden, zu umgehen oder zu untergraben oder den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu beeinträchtigen. Drittens seien ihre möglichen praktischen Auswirkungen begrenzt und führten nicht zur Einstellung des Strafverfahrens, sondern nur zu einer Wiederaufnahme eines Verfahrensabschnitts. Viertens stütze sich ihre Begründung auf das Grundrecht auf ein faires Verfahren.
Zum Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit führt der Generalanwalt aus, es sei nicht ersichtlich, dass die Methode der Ernennung zum Verfassungsgericht als solche problematisch wäre. Der Umstand, dass „politische“ Institutionen an der Ernennung zu einer Einrichtung wie der des Verfassungsgerichts beteiligt seien, verwandle diese nicht in eine politische Einrichtung, die der Exekutive untergeordnet wäre. Außerdem habe sich in den vorliegenden Rechtssachen nichts ergeben, was geeignet wäre, die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit des Verfassungsgerichts in Frage zu stellen.
Entscheidung Nr. 51/2016
Zweitens schlägt Generalanwalt Michal Bobek dem Gerichtshof vor, zu entscheiden, dass das Unionsrecht (Der unionsrechtliche Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und die Entscheidung der Kommission 2006/928/EG vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56-57) einer Entscheidung eines nationalen Verfassungsgerichts wie der Entscheidung Nr. 51/2016 nicht entgegensteht, mit der die Durchführung technischer Überwachungsmaßnahmen im Rahmen von Strafverfahren durch Inlandsnachrichtendienste für verfassungswidrig erklärt und der Ausschluss der auf diese Weise erlangten Beweismittel aus Strafverfahren verlangt wird.
Nach Ansicht des Generalanwalts regelt das Unionsrecht nicht die Art und Weise, in der technische Überwachungsmaßnahmen im Rahmen von Strafverfahren durchgeführt werden, oder die Rolle und die Befugnisse der Inlandsnachrichtendienste. In diesem Rahmen könne ein nationales Verfassungsgericht selbstverständlich bestimmte Akteure oder Einrichtungen von der Möglichkeit zur Durchführung technischer Überwachungsmaßnahmen ausschließen. Der Umstand, dass eine solche verfassungsgerichtliche Entscheidung verfahrensrechtliche Auswirkungen auf anhängige und künftige Korruptionsstrafverfahren haben werde, sei die notwendige und logische Konsequenz.
Hinsichtlich der Disziplinarstrafen für die Nichtbeachtung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts ist der Generalanwalt der Ansicht, dass das Unionsrecht (Art. 267 AEUV und der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit) dem entgegenstehe, dass gegen einen Richter allein deshalb ein Disziplinarverfahren eingeleitet werde, weil er ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet habe, mit dem er die Rechtsprechung des nationalen Verfassungsgerichts in Frage stelle und die Möglichkeit der Nichtanwendung dieser Rechtsprechung in Erwägung ziehe.
Entscheidung Nr. 417/2019
Drittens schlägt Generalanwalt Bobek dem Gerichtshof vor, zu entscheiden, dass Art. 325 Abs. 1 AEUV einer Entscheidung eines nationalen Verfassungsgerichts wie der Entscheidung Nr. 417/2019, mit der die Besetzung der Spruchkörper eines nationalen obersten Gerichts, die in erster Instanz über Korruptionsdelikte entscheiden, mit der Begründung für rechtswidrig erklärt wird, dass diese Spruchkörper nicht auf Korruptionssachen spezialisiert seien, obwohl die Richter, die diesen Spruchkörpern angehören, anerkanntermaßen über die erforderliche Spezialisierung verfügen, entgegensteht, wenn eine solche Feststellung zu einer systemischen Gefahr der Straflosigkeit bei Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union führen kann.
Der Generalanwalt weist darauf hin, dass der Verstoß gegen die nationale Vorschrift über die Besetzung eines gerichtlichen Spruchkörpers im vorliegenden Fall keinen Verstoß gegen Art. 47 der Charta darstelle. Erstens habe das Erfordernis der Spezialisierung offenbar einen ausgesprochen formalen Charakter. Zweitens scheine diese Regelung eine ziemlich begrenzte Ausnahme zu sein, die nur auf bestimmte Rechtsgebiete und auf die Stufe der ersten Instanz angewendet werde. Drittens deuteten andere zusätzliche Aspekte darauf hin, dass kein „flagranter“ Verstoß vorliege.
In Bezug auf den Schutz der finanziellen Interessen der Union ist der Generalanwalt der Ansicht, dass die fragliche Entscheidung die oben genannten Anforderungen des Art. 325 Abs. 1 AEUV nicht erfülle, weil ernsthafte Bedenken hinsichtlich der allgemein wahrnehmbaren oder zu erwartenden praktischen Folgen der fraglichen Entscheidung bestehen könnten.
Die Entscheidung Nr. 417/2019 verlange die erneute Verhandlung in erster Instanz aller Rechtssachen, in denen eine Berufung anhängig sei und das Urteil erster Instanz zwischen dem 21. April 2003 und dem 22. Januar 2019 ergangen sei. Die vernünftigerweise zu erwartenden Auswirkungen dieser Entscheidung sei in Anbetracht des allgemeinen Komplexitätsgrads der Fälle von Korruptionsdelikten, die von Personen begangen würden, die in die Zuständigkeit der ÎCCJ fielen, sowie angesichts der Wahrscheinlichkeit von Berufungen sehr groß.
Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist nach Ansicht des Generalanwalts dahin auszulegen, dass er es einem nationalen Gericht erlaubt, eine nach nationalem Recht verbindliche Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts unangewendet zu lassen, wenn das vorlegende Gericht dies für erforderlich hält, um den sich aus unmittelbar geltenden Vorschriften des Unionsrechts ergebenden Verpflichtungen nachzukommen.